
Foto: Schläsinger - CC BY-SA 4.0
Erst das Erzählen macht die Geschichte wirklich
Das habe ich schon öfter erlebt beim Beerdigungskaffee. Da gibt es den berühmten Streuselkuchen – siehe oben – und da werden Geschichten erzählt. Oft auch lustige Geschichten und es wird dann laut gelacht beim Beerdigungskaffee. Man schrickt erst etwas zusammen, weil es ja um ein trauriges Ereignis geht, aber die verstorbene Tante wird bei der lustigen Geschichte richtig lebendig. Die erzählten Geschichten bewirken das.
Das gilt auch für goldene Hochzeiten und große Geburtstage. Das gemeinsame Erzählen macht die Geschichte wieder gegenwärtig. Und das ist so eine schöne Erfahrung. Ja, so komme ich zu der Behauptung, dass erst das Erzählen die Geschichte wirklich macht. Jeder Mensch kann erzählen, aber es gibt auch ganz begnadete Erzählerinnen und Erzähler und vielleicht kennen Sie solche in der eigenen Verwandtschaft. Und es gibt sie natürlich in der Literatur. Haben Sie einen Lieblingsautor oder eine Lieblingserzählerin? Sie machen Geschichte wirklich.
Und das gilt natürlich und besonders für die eigenen Lebensgeschichten. Was ich schon mal erzählt habe, das merke ich mir auch besser. Und oft erzähle ich „meine“ Geschichten auch auf meine Weise und oft mit gleichen Worten. Das verfestigt die Geschichte. Es verformt sie auch unweigerlich. Und wenn ein Ehepaar seinen Freunden das gleiche gemeinsam erfahrene Erlebnis schildert, dann kommt es oft zum Streit, weil sie für jeden anders passiert ist. Das kann sogar sehr irritierend sein. Das gleiche Ereignis, ganz unterschiedlich erlebt, ganz unterschiedlich erzählt. Haben beide recht? Gibt es dahinter noch eine eigentliche Geschichte, die nochmals verschieden ist von beiden Erzählungen?
Mit der Zeit wird meine erzählte Geschichte so sicher und fest, dass ich das Ereignis dahinter nur noch in meiner Erzählung habe. Kennen Sie das auch? Das ist eine erstaunliche Sache. Die Erzählung wird zur Geschichte. Die Erzählung macht die Geschichte. Vielleicht sind also die Erzählungen am Ende wichtiger als die Ereignisse. Denn Ereignisse bleiben uns nur erhalten, wenn sie erzählt werden. Was nicht mehr erzählt wird, das wird unweigerlich vergessen. Das verschwindet, als sei es nie geschehen. Die wieder erzählte Geschichte bewahrt die Geschichte und macht sie wirklich und erhält sie wirklich.
Alle diese Beobachtungen und Erfahrungen darf ich jetzt einmal auf die Bibel anwenden. Das sind ja lauter alte und ganz alte Geschichten. Was da in den ersten fünf Büchern Mose erzählt wird, das ist zum Teil ganz meisterlich erzählt. Es ist so erzählt, dass ich es heute noch nachempfinden kann. Vor allem gilt das für die so genannten Patriarchengeschichten von Abraham, Isaak und Jakob, von ihren Kindern und Enkeln. Aber dann auch von Mose und dem Auszug aus Ägypten, dem Wandern durch die Wüste bis ins Heilige Land.
Und es war Sitte, dass diese Geschichten immer wieder erzählt wurden, und sie wandelten sich dann auch je nach der augenblicklichen Situation des Volkes Israel. Bestimmte Aspekte wurden hervorgehoben, andere weggelassen. So wird zum Beispiel der Schöpfungsbericht auf der ersten Seite der Bibel im Psalm 104 noch einmal erzählt, aber viel poetischer und humorvoller. Auch die Akzente sind ganz unterschiedlich. In Genesis 1 geht es darum, aus dem Chaos einen Kosmos zu machen. Es geht um das Ordnen. Im Psalm geht es um die Schönheit und die Vielfalt. Auch das Johannesevangelium greift in seinem ersten Kapitel auf Genesis 1 zurück. Bei Johannes wird aber die Schöpfung schon auf die Menschwerdung des Wortes Gottes hin erzählt. Auf die Fleischwerdung des Wortes hin, in dem alles geschaffen ist. Also alles noch einmal aber nun nach der Erfahrung des Lebens, des Todes und der Auferstehung Jesu Christi aus Nazareth. Auch hier macht das Erzählen die Geschichte wirklich, indem Erfahrungen betont werden, die da im Geschehen mit drin sind, aber durch aktuelle Erfahrungen erst richtig wahrgenommen werden.
Vielleicht hilft es ja als bloße Anregung, um sich diesen so sehr unterschiedlichen Erzählungen der Bibel zu nähern, sie einmal mit den vielen unterschiedlichen Erzählungen und Erzählweisen innerhalb der eigenen Familie zu vergleichen, Wie auch da die gleichen Ereignisse immer wieder ähnlich und doch anders erzählt werden. Und wie sie Geschichte wirklich werden lassen.
Viel Freude beim gemeinsamen Erzählen!
Thomas Gertler SJ
20. September 2023
Mose fordert im 5. Buch Mose, Kapitel 4 die Israeliten auf, einander und den Kindern und Kindeskindern die großen Taten Gottes und die Erfahrungen mit ihm zu erzählen und weiterzugeben. Das haben wir bis zum heutigen Tag mehr oder weniger gut getan. Jetzt aber ist die Gefahr groß, dass das Erzählen abbricht, weil die biblischen Geschichten eben nicht mehr erzählt und weitererzählt werden. Das wäre ein Abbruch in unserer europäischen Kultur. Wie heißt die bekannte jüdische Erfahrung: „Erinnern [und erzählen] führt in das gelobte Land. Vergessen führt in die Verbannung.“
Auf dem Bild sehen wir den Berg Sinai.
Deuteronomium 4,5 - 10
4,5 Siehe, ich habe euch gelehrt Gebote und Rechte, wie mir der HERR, mein Gott, geboten hat, dass ihr danach tun sollt im Lande, in das ihr kommen werdet, um es einzunehmen. 6 So haltet sie nun und tut sie! Denn darin zeigt sich den Völkern eure Weisheit und euer Verstand. Wenn sie alle diese Gebote hören werden, dann müssen sie sagen: Was für weise und verständige Leute sind das, ein herrliches Volk! 7 Denn wo ist so ein herrliches Volk, dem Götter so nahe sind wie uns der HERR, unser Gott, sooft wir ihn anrufen? 8 Und wo ist so ein großes Volk, das so gerechte Ordnungen und Gebote hat wie dies ganze Gesetz, das ich euch heute vorlege? 9 Hüte dich nur und bewahre deine Seele gut, dass du nicht vergisst, was deine Augen gesehen haben, und dass es nicht aus deinem Herzen kommt dein ganzes Leben lang. Und du sollst deinen Kindern und Kindeskindern kundtun 10 den Tag, da du vor dem HERRN, deinem Gott, standest an dem Berge Horeb, als der HERR zu mir sagte: Versammle mir das Volk, dass ich sie meine Worte hören lasse und sie mich fürchten lernen alle Tage ihres Lebens auf Erden und ihre Kinder lehren.