
Foto: Muesse- CC BY 3.0
In meiner Jugend (um 1963) kam ein Gast zu uns nach Hause und brachte uns nicht rote, sondern gelbe Tomaten mit. Die hatte meine Mutter noch nie gesehen und staunte. Der Gast meinte: „Ja, man wird so alt wie eine Kuh und lernt immer noch was dazu.“ Das war natürlich nicht als Beleidigung gemeint, sondern des Reimes willen so uncharmant gesagt. Heute musste ich nun mir selbst sagen, als ich das Wort Zimzum zum ersten Mal hörte: „Zimzum zeigt mich, den alten Ochsen, dumm“.
Sie kennen sicher dieses hebräische Wort Zimzum schon längst. Sie wissen, dass es so viel Rückzug, Verminderung, Kontraktion oder Herabsetzung meint und aus der jüdischen Mystik, genauer der Kabbala stammt. Sie wissen dann auch längst, dass es ein Begriff ist, den der jüdische Rabbi Isaak Luira (genannt ARI, 1534 bis 1572) geprägt hat und wie er dann in der ganzen europäischen Geistesgeschichte Karriere machte. Nur ich habe bis vor kurzem noch nie etwas davon gehört.
Das theologische Problem, um das es bei Zimzum geht, war und ist mir allerdings bekannt, nämlich wie denn neben dem einen, allmächtigen, allgegenwärtigen, alles erfüllenden Gott noch so etwas wie eine eigene, mächtige, raumgreifende, zeitfüllende, noch dazu freie Schöpfung möglich sein kann? Dafür ist doch neben Gott gar kein Platz vorhanden. Es sei denn, Gott schränkt sich selbst ein, zieht sich zurück, gibt Macht, Raum und Zeit für die Schöpfung und gibt sie frei ins Eigene. Und diese Selbstbeschränkung heißt im Jüdischen Zimzum. Das Bild oben will das darstellen. In der Mitte Gottes entsteht Raum für die Schöpfung.
Ist das aber richtig gedacht? So räumlich, so zeitlich usw.? Kann man das so frech sagen, wie Zimzum von meinem Mitbruder Raymund Schwager beschrieben wurde: : „der liebe Herrgott zog den Bauch ein, und es wurde Platz!” Nun, wir armen Menschen können nur räumlich denken, aber wir wissen zugleich, dass es Gott gegenüber nicht richtig und angemessen ist. Und indem wir das wissen, sind wir schon darüber hinaus. Also auch Rabbi Isaak Luria (der „Ari“) hat nicht so simpel gedacht. Es war ihm vielmehr klar, was ja Überzeugung des Alten Testamentes ist, dass vor Gott und neben Gott von sich her nichts bestehen kann. Dass es also dieser Zurückhaltung und dieses Rückzuges Gottes bedarf, damit wir bestehen können und dass es dann sogar so etwas wie eine menschliche Freiheit neben seiner unendlichen Macht und Freiheit geben kann.
Ja, gerade darin zeigt sich Gottes Allmacht und unendliche Freiheit, dass eine endliche und begrenzte Freiheit für ihn keine Konkurrenz und Bedrohung ist, dass er sie wahrhaft ermöglicht und stets achtet, ja, ihr Erfinder ist und er unsere endliche Freiheit so will, wie er unser Dasein und das Dasein aller 8 Milliarden Menschen will und das aller Kühe, Ochsen, Mücken und Elefanten. Ja, das ist göttlich. Das Ja Gottes und Sein Wille zu dieser unermesslich großen und unmessbar winzigen Schöpfung in allen ihren Dimensionen!
Wir finden im Zimzum auch eine Antwort auf eines der größten Probleme für uns heute, nämlich auf die Verborgenheit und Unerfahrbarkeit Gottes. Würde sich Gott in all seiner Größe und Herrlichkeit heute und hier zeigen, wäre es mit unserer menschlichen Freiheit ihm gegenüber vorbei. Es bedeutete vielmehr das Ende der Welt und den Anbruch und Einbruch des Reiches Gottes. Es bedeutete dann auch das Gericht über uns und das Offenbarwerden unserer freien Lebensentscheidung ihm und seinem Ruf gegenüber, nämlich ob wir ihn im Geringsten seiner Schöpfung erkannt und gedient haben (Mt 25,31-46). Gottes Größe und Herrlichkeit würde uns überwältigen und richten, wenn es Zimzum nicht gäbe.
Und noch ein Letztes für heute und jetzt, denn man könnte ganze Bücher über Zimzum schreiben und hat es schon getan (z.B. Christoph Schulte, Zimzum: Gott und Weltursprung, Suhrkamp-Verlag 2014). Auch wir Menschen als Gottes Ebenbilder sollten Zimzum üben: also den Bauch einziehen und anderen Raum geben, also sich bescheiden und anderen das Sein gönnen und sich an ihrem Dasein freuen. Ja, wie gute Eltern sein, die durch ihre gegenseitige Zuneigung ihren Kindern einen Schutz- und Lebensraum geben und darin ihre Freude und Erfüllung finden.
Damit schließe ich und grüße Sie herzlich
Thomas Gertler SJ
23. November 2022
Der Psalm 31 sagt als Erfahrung, was im Zimzum als allgemeines Prinzip gilt, dass Gott nämlich weiten Raum gibt, dass er unser Dasein will und schützt. Genau das Gegenteil will der Böse im Psalm. Er bedroht das Dasein und gibt dem anderen keinen Lebensraum, sondern will ihn vernichten. Dagegen ist Gott eine Burg und darin kann ich mich bergen.

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Psalm 31,1 - 25
31,1 Für den Chormeister. Ein Psalm Davids. 2 HERR, bei dir habe ich mich geborgen. / Lass mich nicht zuschanden werden in Ewigkeit; rette mich in deiner Gerechtigkeit! 3 Neige dein Ohr mir zu, erlöse mich eilends! Sei mir ein schützender Fels, / ein festes Haus, mich zu retten! 4 Denn du bist mein Fels und meine Festung; um deines Namens willen wirst du mich führen und leiten. 5 Du wirst mich befreien / aus dem Netz, das sie mir heimlich legten; denn du bist meine Zuflucht. 6 In deine Hand lege ich voll Vertrauen meinen Geist; du hast mich erlöst, HERR, du Gott der Treue. 7 Verhasst waren mir, die nichtige Götzen verehren, ich setze auf den HERRN mein Vertrauen. 8 Ich will jubeln und deiner Huld mich freuen; denn du hast mein Elend angesehn, / du kanntest die Ängste meiner Seele. 9 Du hast mich nicht preisgegeben der Hand meines Feindes, du stelltest meine Füße in weiten Raum. 10 HERR, sei mir gnädig, denn mir ist angst; vor Gram sind mir Auge, Seele und Leib zerfallen. 11 In Kummer schwand mein Leben dahin, meine Jahre vor Seufzen. Meine Kraft ist ermattet wegen meiner Sünde, meine Glieder sind zerfallen. 12 Vor all meinen Bedrängern wurde ich zum Spott, zum Spott sogar für meine Nachbarn. Meinen Freunden wurde ich zum Schrecken, wer mich auf der Straße sieht, der flieht vor mir. 13 Ich bin dem Gedächtnis entschwunden wie ein Toter, bin geworden wie ein zerbrochenes Gefäß. 14 Ich hörte das Zischeln der Menge - Grauen ringsum. Sie taten sich gegen mich zusammen; / sie sannen darauf, mir das Leben zu rauben. 15 Ich aber, HERR, ich habe dir vertraut, ich habe gesagt: Mein Gott bist du. 16 In deiner Hand steht meine Zeit; entreiß mich der Hand meiner Feinde und Verfolger! 17 Lass dein Angesicht leuchten über deinem Knecht, hilf mir in deiner Huld! 18 Lass mich nicht zuschanden werden, HERR, denn ich habe zu dir gerufen! Zuschanden werden sollen die Frevler, sie sollen verstummen in der Totenwelt. 19 Jeder Mund, der lügt, soll sich schließen, der Mund, der frech gegen den Gerechten redet, / hochmütig und verächtlich. 20 Wie groß ist deine Güte, die du bewahrt hast für alle, die dich fürchten; du hast sie denen erwiesen, die sich vor den Menschen bei dir bergen. 21 Du verbirgst sie im Schutz deines Angesichts vor den Verschwörungen der Leute. In einer Hütte bewahrst du sie vor dem Gezänk der Zungen. 22 Gepriesen sei der HERR, denn er hat seine Huld wunderbar an mir erwiesen / in einer befestigten Stadt. 23 Ich aber sagte in meiner Angst: Ich bin verstoßen aus deinen Augen. Doch du hast mein lautes Flehen gehört, als ich zu dir um Hilfe rief. 24 Liebt den HERRN, all seine Frommen! Seine Getreuen behütet der HERR, / doch reichlich vergilt er dem, der hochmütig handelt. 25 Euer Herz sei stark und unverzagt, ihr alle, die ihr den HERRN erwartet.