Zähme die Extreme!

Im letzten Impuls ging es mehr um die eigene, persönliche Neigung zur Übertreibung oder ins Extrem. Diese Neigung hat heute, wie jeder weiß, eine weit ins Gesellschaftliche reichende Bedeutung. Ja, der Extremismus ist ein Kennzeichen unserer Zeit. Das geht bei so relativ harmlosen Dingen wie der Mode los. Da werden zum Beispiel immer wieder Dinge getragen, die extrem unbekömmlich sind wie sehr hohe Plateauschuhe oder atemraubende Korsetts, die Ohnmachten oder Knöchelbrüche hervorrufen können.

Es setzt sich aber fort bei wirklich gefährlichen Extremen wie in der Religion oder der Politik. In der Religion hat es das wohl immer in irgendeiner Form gegeben, weil sie die höchsten Wertansprüche vertritt. Wer es also mit dem Religiösen sehr ernst meint, kann schnell dabei sein, extrem zu werden. Und das heißt auch oft gewalttätig gegen sich und andere. Die furchtbare Steinigung ist uralt und es gibt sie in manchen Ländern bis heute. Wie kommt das immer wieder? Es beginnt zumeist mit einer guten oder auch berechtigten Sache. Mit der Sorge um den Glauben beispielsweise. Oder auch mit dem Wunsch und Willen, Gott wirklich an die erste Stelle zu setzen. Und dieses Richtige und Gute wird überzogen und übertrieben und mit Gewalt durchgesetzt.

Es gerät aus der Mitte heraus und geht ins Außen, oft ins Äußerliche. Ich sehe nicht mehr bei mir ein Problem, nicht mehr die Frage an mich, sondern ich sehe die anderen, die da draußen als die Gefährdeten und Gefährlichen. Die sind schuld daran, dass der Glaube nicht mehr richtig gelebt wird und so auch die Gemeinschaft insgesamt gefährdet wird. Wir verlagern die Probleme komplett auf die anderen. Unseren eigenen Anteil sehen wir nicht mehr. Und solche extremen Gruppen gibt es heute in allen Religionen, nicht nur im Islam, nein, auch im Christentum und auch im Hinduismus. Überall gibt es solche extremen Einstellungen und Gewalttätigkeiten und Verlagerungen nach außen aus einem grundsätzlich guten Anliegen, nämlich der Rettung des Religiösen, der Wertschätzung Gottes.

Es ist genauso in der Politik. Auch da werden dann gute und richtige Einsichten und Anliegen überzogen und ins Extreme getrieben, auch mit Feindbildern und mit Hass, die aus Angst entstehen. Jeder denkt jetzt an bestimmte Parteien und Organisationen, die so ins Extreme gehen. Warum fällt mir zuerst diese Gruppe ein? Gibt es bei mir selbst bestimmte Antipathien oder Sympathien? Und wohin? Beim Weg ins Extreme wirken oft die sozialen Medien mit, weil sie es leicht machen, dass ich nur Meinungen und Ansichten angeboten bekomme, die mich bestätigen und unterstützen. (Ich wurde z.B. monatelang von Fahrradreklame heimgesucht, weil ich nach einem Fahrrad im Internet gesucht hatte.) Es entsteht eine so genannte Filterblase oder eine Echokammer, ein geschlossener Informationsraum. Das Extreme ist oft so viel leichter, interessanter, ja, logischer, als sich zu bemühen, auch der mir entgegengesetzten Meinung gerecht zu werden. Aber darum geht es.

Oben sehen Sie als Bild ein altes Wagenrad. Die Erfindung des Rades ist ja eine große Leistung der Menschheit. Für mich illustriert es genau die Überschrift: „Zähme die Extreme“. Das Rad funktioniert nur, wenn es zusammenhält. Unsere Gesellschaft und auch ähnlich die Kirche und andere große Gemeinschaften laufen nur rund, wenn das Ganze im Zaume gehalten wird. Wenn einzelne Speichen aus der Felge ausbrechen oder wenn die Felge die Speichen nicht mehr zusammenhält, dann bricht das Rad.

Die Felge ist die gemeinsam anerkannte Grenze der Gemeinschaft, also die Gesetze, der Rahmen. Die Speichen sind für mich die einzelnen Kräfte in der Gesellschaft wie Wirtschaft, Politik, Kunst, Religion. Sie haben oft die Neigung auszubrechen. Die Nabe sind die tiefsten Werte, die alles zusammenhalten. Die werden beim Staat durch unsere Staatsverfassung, durch das Grundgesetz beschrieben. Die noch tieferen Begründungen dieser Werte liegen jedoch im Religiösen und im Humanen. Es sind die europäischen Geschichts- und Geisteskräfte aus Judentum und Christentum, aus griechischer Philosophie und römischen Recht.

Für die Kirche ist die Nabe unsere lebendige Beziehung zum dreifaltigen Gott, die alles zusammenhält. Wenn sie vergeht, dann ist die Nabe des Rades hinüber. Wie uns die Geschichte unten erzählt. Also: zähme die Extreme und bleibe in der Beziehung! Dazu kann und will uns die Fastenzeit helfen, wieder in die Mitte zu kommen.

Es grüßt Sie herzlich
Thomas Gertler SJ

26. Februar 2020

Martin Buber erzählt die folgende Begebenheit in seinen „Chassidischen Geschichten“. Das innerste Pünktlein, von dem sie erzählt, das ganz klein ist und kaum wahrgenommen wird, ist die Mitte von allem, nämlich die innere Verbundenheit mit Gott, der Sinn von allem. Diese Geschichte hilft sehr die Geister zu unterscheiden, nämlich zu leben mit oder ohne innerstes Pünktlein. Das Bild zeigt uns einen Rabbi beim Studium.

Foto: ישיבת מרכז הרב - CC BY-SA 3.0

Rabbi Jizchak Meir erging sich einmal an einem Spätsommerabend mit seinem Enkel im Hof des Lehrhauses. Er begann zu reden: „Wenn einer Rabbi wird, müssen alle nötigen Dinge da sein: ein Lehrhaus und Zimmer und Tische und Stühle, und einer wird Verwalter und einer wird Diener und so fort. Und dann kommt der böse Widersacher und reißt das innerste Pünktlein heraus, aber alles andere bleibt wie zuvor, und das Rad dreht sich weiter, nur das innerste Pünktlein fehlt!“ Der Rabbi hob die Stimme: „Aber Gott helfe uns: Man darf’s nicht geschehen lassen.“