
Foto: Sailko - CC BY 3.0
Im Impuls über die Verbitterung hatte ich versprochen, das Thema fortzusetzen, und zwar mit der Weisheitstherapie. Weisheit ist so alt wie die Menschheit. Damit ist die Reife, Abgeklärtheit, Erfahrenheit, der innere Abstand und Frieden, der ruhige Humor gemeint, den mancher alte Mensch sich über die langen Jahrzehnte seines Lebens erworben hat. Nicht jeder erwirbt diese Weisheit. Weisheitstherapie will von den Weisen lernen, um diese Fähigkeiten gerade mit bitteren Menschen einzuüben, um sie von ihrer Bitterkeit zu befreien.
Das erste, was der verbitterte Mensch versuchen soll, ist eine größere Freiheit gegenüber dem unglücklichen Ereignis zu gewinnen. Ja, das ist Unglück geschehen, ja, das hat mein Leben verändert, ja, das war nicht meine Schuld. All das stimmt. Aber es bedeutet nicht, dass ich mein Leben davon völlig bestimmen lassen muss. Mein Leben ist mehr als dieses verbitternde Ereignis. Das stand schon so in dem Impuls über die Verbitterung. Was hilft mir, um weitere Distanz und Freiheit zu gewinnen?
Als Bild über dem Impuls habe ich diesmal eine uralte Büste von Sokrates gewählt. Den berühmten Philosophen Athens, der 469 geboren ist und 399 durch den Schierlingsbecher, einen Giftbecher starb. Er war von seinen Athener Mitbürgern zum Tode verurteilt worden wegen Gottlosigkeit und als Verderber der Jugend. Das war ein himmelschreiendes Unrecht.
Für seine Philosophie war am wichtigsten das Gespräch, der Dialog, in dem er sein Gegenüber immer tiefer befragte, immer umfassender befragte, bis sich die Selbstgewissheit des Partners in Nachdenken und Ungewissheit aufhob. Das also soll hilfreich sein gegen die Bitterkeit? Ja, als erstes ist das Gespräch überhaupt hilfreich. Jedes Gespräch bringt mir andere Perspektiven. Als zweites hilft ein solch speziell sokratisches Gespräch, weil es meine Gewissheiten ins Wanken bringt, dass ich nur und allein Opfer bin und dass alles durch das bitter machende Unglück bedingt ist, dass dadurch nun alles bestimmt und mein Leben verdorben und zerstört ist. Ein solches sokratisches Gespräch verhilft mir dazu, meinen Blick zu weiten, andere Perspektiven zu sehen, mich nicht nur zu fixieren auf dieses eine unglückliche Ereignis.
Ja, es ist sogar genauer zu sagen: Der berühmte Spruch des Sokrates, der auch so gern von faulen Schülern gebraucht wird, lautet: „Ich weiß, dass ich nichts weiß.“ Dieser Satz ist aber gerade vom faulen Schüler nicht verstanden. Sokrates will sagen: Du bist Deiner Sache so gewiss. Ich frage sie an, und zwar sehr tief und intensiv und dabei stellen wir fest, dass die Gewissheit ins Wanken kommt. Sokrates wusste das, weil er vorher schon nachgedacht hatte und daher das eine wusste, nämlich dass er nichts wusste. Das selbstgewisse Gegenüber ahnte aber nicht einmal, dass seine Gewissheit keinen festen Grund hat.
Was die Weisheit des Sokrates ausmachte, ist schließlich etwas drittes, das wir auch auf dem Bild oben sehen können, das ist sein Humor und seine Heiterkeit. Sokrates lächelt. Humor, sagt man, ist der Regenschirm der Weisen. Humor lässt lächeln über die zahllosen Unbilden der zwischenmenschlichen Witterung und behütet mich davor, sie gar zu ernst zu nehmen und auch mich selbst zu ernst zu nehmen. Bei Sokrates war es sogar der innere Abstand gegenüber dem offensichtliche Fehlurteil, das ihn selbst betraf und ihn das Leben kostete. Er hat es zuerst mit allen Mitteln sokratischer Weisheit bekämpft und versucht, seine Mitbürger zu überzeugen, dass sie sich irren. Als das fehlschlug, hat er das Urteil angenommen und mit innerer Freiheit getragen. Am Tag seines beschlossenen Todes hat er bis zum Schluss mit seinen Freunden philosophiert ohne Bitterkeit gegenüber seinen Mitbürgern und seinem Schicksal.
Philosophie ist die Liebe zur Weisheit. Also in gewisser Weise gerade die Kunst, sich nicht verbittern zu lassen, sondern innerlich die heitere Freiheit zu gewinnen und mehr zu wissen, indem ich nichts weiß. Auch die Bibel kennt die Weisheit und schätzt sie hoch. Sie ist Geschenk Gottes an den, der sich ihr öffnet und ihr folgt.
Herzlich grüße ich Sie und wünsche Ihnen die Gaben der Weisheit
Thomas Gertler
5. Oktober 2022
Auf dem Bild sehen wir eine Ikone der heiligen Weisheit. Neben ihr Maria, die Mutter Jesu, und Johannes der Täufer. Denn die Weisheit Gottes erreicht ihre Tiefe in der Menschwerdung des Wortes Gottes in Jesus Christus. Der Text ist ein Lobpreis der Weisheit aus dem alttestamentlichen Buch Jesus Sirach.
Jesus Sirach 24,1 - 22
24,1 Der Weisheit Lobpreis Die Weisheit lobt sich selbst / und inmitten ihres Volkes rühmt sie sich. 2 In der Versammlung des Höchsten öffnet sie ihren Mund / und in Gegenwart seiner Macht rühmt sie sich: 3 Ich ging aus dem Mund des Höchsten hervor / und wie Nebel umhüllte ich die Erde. 4 Ich schlug in den Höhen mein Zelt auf / und mein Thron stand auf einer Wolkensäule. 5 Den Kreis des Himmels umschritt ich allein / und in der Tiefe der Abgründe ging ich umher. 6 Auf den Wogen des Meeres und auf der ganzen Erde, / in jedem Volk und in jeder Nation hatte ich Besitz. 7 Bei all diesen suchte ich Ruhe / und in wessen Erbteil ich verweilen kann. 8 Da gebot mir der Schöpfer des Alls, / der mich schuf, ließ mein Zelt einen Ruheplatz finden. Er sagte: In Jakob schlag dein Zelt auf / und in Israel sei dein Erbteil! 9 Vor der Ewigkeit, von Anfang an, hat er mich erschaffen / und bis in Ewigkeit vergehe ich nicht. 10 Im heiligen Zelt diente ich vor ihm, / so wurde ich auf dem Zion fest eingesetzt. 11 In der Stadt, die er ebenso geliebt hat, ließ er mich Ruhe finden, / in Jerusalem ist mein Machtbereich, 12 ich schlug Wurzeln in einem ruhmreichen Volk, / im Anteil des Herrn, seines Erbteils. 13 Wie eine Zeder auf dem Libanon wuchs ich empor / und wie eine Zypresse auf dem Hermongebirge, 14 wie eine Palme in En-Gedi wuchs ich empor / und wie Rosensträucher in Jericho, wie ein stattlicher Olivenbaum in einer Ebene, / ich wuchs empor wie eine Platane. 15 Wie Zimtstrauch und duftender Stechdorn, / wie erlesene Myrrhe verströmte ich Wohlgeruch; wie Galbanum, Onyx und Stakte / und wie Weihrauchduft im Zelt.[3] 16 Ich breitete wie eine Terebinthe meine Zweige aus / und meine Zweige sind Zweige von Herrlichkeit und Anmut. 17 Wie ein Weinstock ließ ich Anmut sprießen, / meine Blüten sind Frucht von Herrlichkeit und Reichtum. 18 Ich bin die Mutter der schönen Liebe und der Furcht, / der Erkenntnis und der heiligen Hoffnung; doch ich werde mit allen meinen Kindern / für immer gegeben nach seinem Wort. 19 Kommt zu mir, die ihr mich begehrt, / und ihr sättigt euch an meinen Früchten! 20 Denn die Erinnerung an mich ist süßer als Honig / und mein Erbteil besser als eine Honigwabe. 21 Die mich essen, werden noch hungern, / die mich trinken, werden noch durstig sein. 22 Wer mir gehorcht, wird nicht beschämt, / und die sich um mich mühen, werden nicht sündigen.