
Foto: Thomas Gertler
Heute bin ich 280 Stufen hinaufgestiegen in den Turm von St. Jacobi, der zentralen Kirche von Göttingen: zuerst steinerne Wendeltreppen, dann immer engere und steilere Holztreppen, die fast wie Leitern waren. So eng, dass man sie rückwärts wieder hinabsteigen musste, um sicher zu gehen. Also habe ich heute mein sportliches Training schon hinter mir und merke meine Beine.
Der Blick vom über 70 m hohen Turm war großartig. Ich habe Ihnen hier den Blick von Jacobi auf die Kirche St. Johannis (rechts) fotografiert, die gerade renoviert wird. Wenn Sie mit dem Auge die Hauptstraße (Mitte) entlang gehen, immer weiter am Fachwerkhaus zum Schwarzen Bären vorbei, das am Ende bzw. am Anfang der Weender Straße steht und noch ein wenig weiter mit dem Blick wandern, dann sehen Sie St. Michael, die katholische Kirche, wo ich jetzt wohne und mich immer mehr einlebe.

Foto: Rabanus Flavus - CC BY-SA 3.0
Und wenn Ihr Blick noch weiter geht über Göttingen hinaus Richtung Horizont, dann sind die Berge des Eichsfelds, meiner Heimat, zu erahnen. Hier bin ich nun also zu Hause und wohne mit mehreren Jesuiten zusammen in einer Gemeinschaft und mit vielen Männern und Frauen, die hier hauptamtlich und ehrenamtlich mitarbeiten und sich engagieren.
So ein Blick von oben ist immer hilfreich. Er verschafft einen Überblick. Er gibt Orientierung. Das ist in Göttingen nicht so sehr schwer. Die Stadt ist einigermaßen überschaubar. Das hat die Turmbesteigung heute gezeigt und das habe ich auch schon in den vierzehn Tagen vorher bemerkt. So ein Blick von oben lässt aber die Menschen als einzelne kaum noch sehen und wahrnehmen. Schauen Sie nur von oben, wie winzig die Menschen sind.
Das erinnert mich an eine Szene im Film „Der dritte Mann“. Da schauen Harry Lime (der dritte Mann) und Holly Martins vom Riesenrad im Wiener Prater auf die Menschen unten, die nur Punkte sind. Und Lime verteidigt sein Verbrechen, gefährlich gepanschtes Penicillin zu verkaufen, damit, dass die Menschen ja nur Punkte sind oder wie Ameisen…
Es kommt nicht darauf an. Die Perspektive von der Ferne und von weit weg auf die Menschen ist gefährlich. Sie kann vergleichgültigen.
Aber das Mikroskop ist auch gefährlich, also den Menschen aus zu großer Nähe und in übertreibender Schärfe anzuschauen. Einerseits unumgänglich, wenn es um Krankheits- oder Seelendiagnose geht. Aber das kann, wie bei manchen Ärzten (und bei manchen Seelsorgern) zum Zynismus führen. Denn da sehe ich überaus nahe sehr Beschämendes, Persönlichstes und Hässliches. Zu große Nähe oder zu große Intimität führen dann leicht zu Ekel und Abscheu und großer Ernüchterung. Das kennen Sie vielleicht auch?
Die Achtung vor der Würde des Menschen versucht darum immer den rechten Abstand zu wahren, also Diskretion. Weder zu fern, noch zu nah. Wir haben meist zu einem von beiden eine Neigung. Wie ist es bei Ihnen? Kommen Sie lieber (immer) näher? Oder bleiben Sie lieber fern? Natürlich sind wir auch unterschiedlich mit unterschiedlichen Menschen. Manchen möchte ich gern immer näher rücken. Bei anderen rücke ich lieber ab.
All das gilt nicht nur für Cocktailpartys, sondern auch im geistlichen Leben und im geistlichen Gespräch. Da gibt es geistliche Begleiter oder Beichtväter, die sehr neugierig und distanzlos ausfragen. Und es gibt welche, die ziemlich unnahbar sind. Und auch bei den Personen, die zur Beichte oder in die Begleitung kommen, gibt es manche, die so sehr ins Detail gehen, wie man es gar nicht wissen wollte. Oder andere, da muss man jedes Wort einzeln aus Nase ziehen und ist sehr dankbar, wenn sich überhaupt ein Gespräch entwickelt.
Ja, so führt der Blick vom Turm der Jacobi Kirche direkt ins Thema der Diskretion, denn darum geht es hier, nämlich ein zu viel oder ein zu wenig zu vermeiden an Nähe oder Abstand. Das ist eine Kunst und sie hat es mit Unterscheidung zu tun – das ist die Bedeutung von „discretio“ – und führt direkt weiter in die „discretio spirituum“, zur Unterscheidung der Geister, wie sie Ignatius von Loyola gelehrt hat.
Dieses Thema fange ich jetzt aber nicht mehr an.
Es grüßt Sie herzlich aus dem schönen Göttingen
Thomas Gertler SJ
28. August 2019
Gott ist einerseits der ganz ferne und andererseits der ganz nahe. Vor beidem haben wir auch immer Angst – aus guten Gründen, die meist in unseren Familien ihre Wurzel haben. Aber Gottes Verhältnis zu uns ist nie gleichgültig oder kalt und kontrollierend – total fern, aber auch nie neugierig, manipulativ, überwältigend oder gar gewalttätig – viel zu nah. Gott achtet unsere Freiheit, ganz und gar. Er hat sie ja gegeben. Und er will andererseits Beziehung, auch ganz und gar. Das beschreibt am schönsten der Psalm 139.

Zeichnung Leonardo da Vincis vom Kind im Mutterleib (um 1510).
Psalm 139,1 - 24
139, 1 HERR, du hast mich erforscht und kennst mich. 2 Ob ich sitze oder stehe, du kennst es. Du durchschaust meine Gedanken von fern. 3 Ob ich gehe oder ruhe, du hast es gemessen. Du bist vertraut mit all meinen Wegen. 4 Ja, noch nicht ist das Wort auf meiner Zunge, siehe, HERR, da hast du es schon völlig erkannt. 5 Von hinten und von vorn hast du mich umschlossen, hast auf mich deine Hand gelegt. 6 Zu wunderbar ist für mich dieses Wissen, zu hoch, ich kann es nicht begreifen.
7 Wohin kann ich gehen vor deinem Geist, wohin vor deinem Angesicht fliehen? 8 Wenn ich hinaufstiege zum Himmel - dort bist du; wenn ich mich lagerte in der Unterwelt - siehe, da bist du. 9 Nähme ich die Flügel des Morgenrots, ließe ich mich nieder am Ende des Meeres, 10 auch dort würde deine Hand mich leiten und deine Rechte mich ergreifen. 11 Würde ich sagen: Finsternis soll mich verschlingen und das Licht um mich soll Nacht sein! 12 Auch die Finsternis ist nicht finster vor dir, die Nacht leuchtet wie der Tag, wie das Licht wird die Finsternis. 13 Du selbst hast mein Innerstes geschaffen, hast mich gewoben im Schoß meiner Mutter.
14 Ich danke dir, dass ich so staunenswert und wunderbar gestaltet bin. Ich weiß es genau: Wunderbar sind deine Werke. 15 Dir waren meine Glieder nicht verborgen,/ als ich gemacht wurde im Verborgenen, gewirkt in den Tiefen der Erde. 16 Als ich noch gestaltlos war, sahen mich bereits deine Augen. In deinem Buch sind sie alle verzeichnet: die Tage, die schon geformt waren, als noch keiner von ihnen da war. 17 Wie kostbar sind mir deine Gedanken, Gott! Wie gewaltig ist ihre Summe! 18 Wollte ich sie zählen, sie sind zahlreicher als der Sand. Ich erwache und noch immer bin ich bei dir. 23 Erforsche mich, Gott, und erkenne mein Herz, prüfe mich und erkenne meine Gedanken!
24 Sieh doch, ob ich auf dem Weg der Götzen bin, leite mich auf dem Weg der Ewigkeit!