
Foto: iToms - CC BY-SA 3.0 DE
Unsere liebste und verhassteste Zerstreuung sehen wir oben: das Mobiltelefon oder unser Handy. Ohne geht ja gar nichts mehr. Aber damit möchte ich hier gar nicht anfangen. Nein, ich gehe zurück in die geistliche Tradition. Da waren die Zerstreuungen zuerst mal die Zerstreuungen im Gebet. Wer regelmäßig und allein für sich in der Stille betet, kennt diese Zerstreuungen. Aber auch oft während des gemeinsamen Gottesdienstes schweifen die Gedanken ab, sind während der Predigt schon beim Mittagessen oder bei der Arbeit, beim letzten Streit oder eben sonst wo.
Pater Adolfo Nicolás (29. April 1936 – 20. Mai 2020), der gerade verstorbene dreißigste Generalobere des Jesuitenordens, hat uns einen Text über die Zerstreuungen hinterlassen: „from distraction to dedication“, von der Zerstreuung zur Hingabe, von der Zerstreuung ins Zentrum. Davon greife ich einiges auf. Und er schreibt, woran ich mich auch erinnere, dass gerade am Beginn des Lebens in der Ordensgemeinschaft das oft Gegenstand der Beichte war. Wenn es sonst nichts gab, Zerstreuungen im Gebet gab es immer zu beichten. Ein Glück, dass es sie gab 🙂 .
Aber sie können einen auch richtig plagen. Wie gehe ich damit um? Erstens, ich gehe nie ohne Tagebuch oder Zettel ins Gebet. Denn das ist ja auch eine Gnade, gerade beim Beten fällt einem etwas Wichtiges ein. Das schreibe ich dann auf. So ist es erst einmal abgelegt und aufgehoben. Ich kann wieder zurück ins Gebet. Nun kommt als zweites eine ganze Affenherde überflüssiger und unnötiger Gedanken. Die lasse ich einfach weiterziehen. Ich springe nicht mit, sondern freue mich, dass ich nun in meinem Baum wieder allein im Gebet bin.
Als drittes kommt aber ein Thema in den Sinn, das schon lange da ist: z. B. die Spannungen mit einem lieben oder nicht so lieben Mitmenschen. Das darf und muss auch ins Gebet genommen werden. Aber jetzt? Das muss ich entscheiden. Wenn ich die Muße habe und die innere Kraft, dann kann ich es jetzt bewusst vor Gott bringen und vor Gott anschauen und um Begleitung und Lösung beten. Wenn jetzt die Muße und die Kraft fehlen, dann darf und soll ich es verschieben – wie ich es ja offensichtlich schon öfter getan habe.
Also Zerstreuungen im Gebet sind unterschiedlich zu behandeln: Aufschreiben für später, einfach weiterziehen lassen, oder drittens bewusst das aufgetauchte Thema ins Gebet nehmen und vor Gott bringen.
Aber Pater Nicolás schreibt, dass Zerstreuungen im Gebet in den Zerstreuungen in meinem Leben gründen. Das ist ihm erst nach einer ganzen Weile aufgegangen, und zwar durch den regelmäßigen Tagesrückblick. Also das sollen wir als nächstes im Kampf gegen die Zerstreuungen betrachten. Dieses Zerstreutsein im Leben, in unserem Alltagsleben. Und da geht es natürlich darum, wie oft und wie gern wir uns ablenken lassen. Wie oft habe ich das erlebt: ich lese morgens nach dem Frühstück die Zeitung. Eine Stunde geht dahin wie im Flug. Und dann nach der Stunde weiß ich gar nicht mehr, was ich eigentlich gelesen habe. Zerstreuung! Oder wie leicht gerate ich beim Recherchieren im Internet vom Hölzchen aufs Stöckchen, von einem Link zum nächsten und am schlimmsten, wenn ich von einem You-tube-Commedian zum nächsten klicke. Totale und sehr schlecht bekömmliche Zerstreuung.
Aber das sind nicht die schlimmsten Zerstreuungen. Es gibt viele, die merken wir gar nicht. Wir merken gar nicht, dass unsere Gedanken und unser Herz immerzu nur um eine Sache kreisen: z. B. das Unrecht, das mir damals angetan wurde. Oder der unverzeihliche Fehler, den ich damals gemacht habe. Oder dass ich seit einiger Zeit gar keine Beachtung finde. Hier können Sie einfügen, was es bei Ihnen ist. Die eine Sache, die mich immer beschäftigt, die mich herunterzieht, um die ich immer herumkreise und mich aus dem eigentlichen Zentrum herausrückt, nämlich weg von Gott und seiner barmherzigen Liebe zu uns.
Ich breche hier ab. Sie können aber gern weiter darüber nachdenken und beten. Das werde ich auch tun und wir werden das Thema fortsetzen. Denn wenn wir immer zerstreut sind und unser Leben nicht die richtige Mitte hat, verlieren wir den Sinn und die Freude.
Es grüßt Sie herzlich
Thomas Gertler SJ
24. Juni 2020, am Fest Johannes des Täufers
Johannes der Täufer wurde selbst für den Messias gehalten, aber er verweist mit dem großen Zeigefinger von sich weg auf Jesus, das Lamm Gottes. Johannes stellt sich nicht selbst in die Mitte, sondern ist ganz auf Jesus konzentriert. Er holt uns damit aus unserer Zerstreuung heraus und führt uns wie seine Jünger zu Jesus. Das ist seine Freude, dass Jesu gekommen ist. Und die lateinische Inschrift auf dem Bild von Matthias Grünewald sagt, was auch die folgende Schriftstelle aus dem Johannes-Evangelium sagt: „Er muss wachsen, ich aber geringer werden.“ Die Braut Jesu in der Schriftstelle ist Israel, ist die Kirche.
Johannes 3, 28 - 30
Johannes der Täufer sagte zu seinen Jüngern 28 Ihr selbst seid meine Zeugen, dass ich gesagt habe: Ich bin nicht der Christus, sondern nur vor ihm her gesandt. 29 Wer die Braut hat, ist der Bräutigam; der Freund des Bräutigams aber, der dabeisteht und ihn hört, ist voller Freude über die Stimme des Bräutigams. Diese Freude hat sich nun bei mir vollendet. 30 Er muss wachsen, ich aber geringer werden.