(Un)geordnete Neigungen

Foto: Saffron Blaze - CC BY-SA 3.0

Kennen Sie das Geräusch, wenn in einer leeren Brötchentüte noch Krümel und Körner rascheln? Meine Großmutter schüttete solche Krümel gerne auf ihrem Frühstücksbrett aus, schob sie behutsam mit dem Messer zusammen, um sie mit der Spitze ihres Zeigefingers nach und nach genüsslich zum Mund zu führen. Geboren 1901, hatte Oma die Entbehrungen zweier Weltkriege miterlebt.  Bis in ihr hohes Alter wertschätzte sie jedes Korn als „Frucht der Erde und der menschlichen Arbeit“. Auch erinnere ich mich an die Gefrierbeutel, die Oma auf links zog und reinigte, um sie ein zweites Mal zu gebrauchen. - War das übertrieben? Knausrig? Schräg? Zwanghaft?

Lebensmittel- und Materialknappheit, Wörter, die zu meinen Lebzeiten in unserem Land bisher nicht zum Vokabular gehörten, machen in letzter Zeit Schlagzeilen und zu Recht auch Angst. Längst hatten wir uns in Überfluss, ja, Verschwendung und in stetigem sogenannten Wachstum eingerichtet. Aber auch andere Wörter lassen aufhorchen, weil sie gerade eine Renaissance erleben: Genügsamkeit, Sparsamkeit und Demut. Will sich da in unserem Bewusstsein - wenn auch schmerzlich - etwas neu ordnen?

Von „ungeordneten Neigungen“ schreibt Ignatius von Loyola in seinen Geistlichen Übungen (GÜ 21). Gemeint sind Neigungen und Antriebe, die das Leben unmäßig bestimmen und im Extremfall bis zu Fixierungen, Zwängen, Gier oder Süchten führen können. „Sein Leben ordnen“ meint hingegen, den Dingen ihren rechten Stellenwert und ein ausgewogenes Maß zu geben. Das Leben ordnen - ist das nicht Aufgabe jedes Einzelnen und auch jeder Generation und jeder Gesellschaft immer wieder neu? – Zu fragen: Wer oder was bestimmt mich/uns denn? Was ist un-stimmig? Wozu und wohin neige ich; stimmt die Richtung? Wo möchte (s)ich etwas verändern, neu ordnen?

„Prüft alles und behaltet das Gute! Meidet das Böse in jeder Gestalt!“ (1 Thess 5,21) Oder: „Alles auf die Liebe hin prüfen“, so hat es einmal jemand gesagt. Ignatius empfiehlt in seinem Exerzitienbuch dem/der Übenden und jedem aufmerksamen Christenmenschen: „Von Gott, unserem Herrn, die Gnade (zu) erbitten, dass alle meine Absichten, Handlungen und Beschäftigungen unmittelbar auf Seinen Dienst und Lobpreis ausgerichtet seien“ (GÜ 46). Wie eine Kompassnadel immer wieder die Ausrichtung auf Gott zu suchen, ist entscheidend und befreiend, damit wir nicht in uns selbst verhaftet bleiben.

Foto: Marlies Fricke

Eine, die so lebte, war Thérèse von Lisieux, die wir im Unterschied zur „großen“ Teresa von Ávila auch die „kleine Therese“ nennen. Jene Ordensfrau im französischen Karmel, die mit 24 Jahren starb und uns ein immenses geistliches Erbe hinterlassen hat, sah ihren Dienst in den täglichen unspektakulären, verborgenen Tätigkeiten. Einmal hat sie aufgeschrieben, dass „eine Stecknadel, aufgehoben aus Liebe zu Christus, eine Menschenseele retten“ kann.

Eine einfache Stecknadel, aus Liebe zu Gott und zu den Menschen! Nicht die Größe der Tat ist entscheidend, sondern die Intention des Herzens: Alles auf die Liebe hin prüfen! - Beeindruckend finde ich, dass auch die kleine Nähschwester aus Lisieux neben der großen spanischen Mystikerin zur Kirchenlehrerin erhoben wurde! Jede hatte sich mit ihren Neigungen und Talenten dem Weg Jesu verpflichtet. Meine Oma mit der Brötchentüte erinnert mich jedenfalls ein bisschen an die kleine Therese, weil sie beide offene Augen hatten für das Verborgene und scheinbar Wertlose, für „die göttliche Dimension im Kleinkram des Alltags“ (Andreas Knapp).

Und ich frage mich, was jede/r von uns heute beitragen kann, um die Welt ein klein wenig mehr „in Ordnung“ zu bringen. Welche Stecknadeln können wir aufheben? Welche unserer guten Neigungen können wir stärken?

Ein konkreter Vorschlag für heute Abend: Überwinden wir unsere Bequemlichkeit und schalten im Büro, in Werkstatt, Garage und Wohnung einmal überall den Standby-Modus aus - aus Liebe zu unserem Planeten, der uns vom Schöpfer anvertraut ist. Das wäre ein uns möglicher Beitrag, ganz klein, wie ein Senfkorn (vgl. Mt 17,20).

Und vertrauen wir inmitten der Krisen, Knappheiten und Nöte auf den Pfingstgeist, der uns verschwenderisch beschenken will mit seinen Gaben: mit der Fülle der liebenden und nicht endenden Zuneigung Gottes! Gott lässt uns nicht allein auf unserem Weg! Diese Zuversicht  zu teilen, hat eine große Kraft, wie es der gerade zu Ende gegangene Katholikentag in Stuttgart gezeigt hat.

In diesem Sinn wünsche ich Ihnen ein kraftvolles und hoffnungsfrohes Pfingstfest!

Marlies Fricke (GCL)

01. Juni 2022

 

 

Komm herab, o Heilger Geist,
der die finstre Nacht zerreißt,
strahle Licht in diese Welt.

Komm, der alle Armen liebt,
komm, der gute Gaben gibt,
komm, der jedes Herz erhellt.

Höchster Tröster in der Zeit,
Gast, der Herz und Sinn erfreut,
köstlich Labsal in der Not.

In der Unrast schenkst du Ruh,
hauchst in Hitze Kühlung zu,
spendest Trost in Leid und Tod.

Komm, o du glückselig Licht,
fülle Herz und Angesicht,
dring bis auf der Seele Grund.

Ohne dein lebendig Wehn
kann im Menschen nichts bestehn,
kann nichts heil sein noch gesund.

Was befleckt ist, wasche rein,
Dürrem gieße Leben ein,
heile du, wo Krankheit quält.

Wärme du, was kalt und hart,
löse, was in sich erstarrt,
lenke, was den Weg verfehlt.

Gib dem Volk, das dir vertraut,
das auf deine Hilfe baut,
deine Gaben zum Geleit.

Lass es in der Zeit bestehn,
deines Heils Vollendung sehn
und der Freuden Ewigkeit.

Amen. Halleluja.

Pfingstsequenz „Veni Sancte Spiritus“, um 1200, zugeschrieben Stephan Langton, Erzbischof von Canterbury;
übersetzt von Maria Luise Thurmair und Markus Jenny 1971