Umgekehrt

Foto: Michael Palmer - CC BY-SA 4.0

Viele sitzen jetzt einsam in der Stube wie das arme Häschen in der Grube. Fühlen sich allein und sind es auch, hoffentlich nicht auch noch krank wie das arme Häschen. Für Sie – für alle sich allein Fühlenden – habe ich ein kleines Gedicht von Christian Morgenstern (1871-1914) als Trost. Es ist humorvoll und auch überraschend.

Um es recht verstehen zu können, muss ich zuerst zwei Dinge erläutern. Die Überschrift „Vice Versa“ kommt aus dem Lateinischen und bedeutet – wie unser Titel für den Impuls – „umgekehrt“. Und zweitens ist die Zeile: „Doch, im Besitze eines Zeißes…“ heute vielleicht unverständlich. Die Firma Zeiß aus Jena stellte schon zu Morgensterns Zeit berühmte Ferngläser her Und wurde daher zum Begriff. Mit einem solchen Zeiß-Glas also sieht dieser Mensch unser Häschen ganz genau und scharf. Nebenbei: wir hatten in meiner Heimatstadt Heiligenstadt einen Optiker mit einem Sprachfehler, einem so genannten S-Fehler. Er empfahl einem immer Geräte von der bekannten Firma „Scheisch.“

Vice Versa

Ein Hase sitzt auf einer Wiese,
des Glaubens, niemand sähe diese.

Doch, im Besitze eines Zeißes,
betrachtet voll gehaltnen Fleißes

vom vis-à-vis gelegnen Berg
ein Mensch den kleinen Löffelzwerg.

Ihn aber blickt hinwiederum
ein Gott von fern an, mild und stumm.

Überraschend und humorvoll. Es ist genau umgekehrt, wie ich glaube. Ich sitze gar nicht allein in der Grube und niemand sieht mich und ich bin unbeobachtet. Nein, da sieht mich jemand von der Ferne und voll Freude an. Das ist ja auch toll, leibhaftig einen Hasen auf dem Rasen zu sehen. Das ist so selten geworden. Und auch der Beobachter, der seinerseits meinte, es sähe ihn niemand, wird mild und stumm von Gott angeblickt. Von Morgenstern sicher erst einmal tröstlich und fröhlich gemeint.

Uns heute beschleicht aber sofort ein ungutes Gefühl. „Big brother is watching you!“ Sie haben vielleicht das Kamera-Auge an Ihrem PC abgeklebt oder überdeckt, weil Sie genau das nicht wollen: heimlich beobachtet werden. Wir übertragen sofort unsere heutige Situation auf damals. Das Gedicht ist 1910 erschienen. Da gab es unsere heutigen technischen Überwachungsmöglichkeiten noch nicht. Da war man wirklich allein auf seinem Zimmer, hatte vielleicht ein Grammophon, aber noch kein Radio, geschweige denn ein elektronisches Auge auf dem Schreibtisch. Aber Überwachung und Neugier gab es selbstverständlich längst.

Aber all das soll gar nicht unser Thema sein, sondern das, was uns Morgenstern mitteilt: Du fühlst dich allein. Es ist aber umgekehrt. Du bist nicht allein. Ein liebevolles (kein übelwollendes, kontrollierendes) Auge ruht auf Dir und freut sich an Dir. Wenn nicht real, so doch oft in liebevollen Gedanken und bei manchen auch liebevollen Gebeten. Und auf allem liegt Gottes liebender Blick. Dessen sollen wir uns erinnern, und zwar immer wieder.

Und das ist in solchen Stunden hilfreich, wo wir das Gefühl haben: wir sitzen ganz allein da, wie Max Raabe singt: „Kein Schwein ruft mich an...“. Da fällt einem nämlich sonst immer noch mehr dazu ein, wie allein man schon immer war. Und der hat mich verlassen und die hat mich verraten. Nein, in solcher Situation bewusst darauf schauen und sich erinnern: ach, die gute Tante Luzie und mein alter Freund Helmut. Und Gisela muss ich unbedingt noch anrufen. Denn es ist genau umgekehrt, wie ich fühle.

Sie sind nicht so allein, wie Sie sich fühlen! Und wie uns Papst Benedikt öfter gesagt hat: „Wer glaubt, ist nie allein…“.

Und so grüße ich Sie aus der Leere meines Zimmers in Gedanken an viele liebe Menschen

Thomas Gertler SJ

20. Mai 2020

Am besten passt tatsächlich der Psalm 139, der diesen Blick und die Gegenwart Gottes schildert, zu unserem Thema. Hier symbolisiert in dem Auge Gottes unten auf dem Bilde.

Foto: VitVit - CC BY-SA 4.0

 

Psalm 139

Ps 139,1 Für den Chormeister. Von David. Ein Psalm. HERR, du hast mich erforscht und kennst mich.
2 Ob ich sitze oder stehe, du kennst es. Du durchschaust meine Gedanken von fern.
3 Ob ich gehe oder ruhe, du hast es gemessen. Du bist vertraut mit all meinen Wegen.
4 Ja, noch nicht ist das Wort auf meiner Zunge, siehe, HERR, da hast du es schon völlig erkannt.
5 Von hinten und von vorn hast du mich umschlossen, hast auf mich deine Hand gelegt.
6 Zu wunderbar ist für mich dieses Wissen, zu hoch, ich kann es nicht begreifen.
7 Wohin kann ich gehen vor deinem Geist, wohin vor deinem Angesicht fliehen?
8 Wenn ich hinaufstiege zum Himmel - dort bist du; wenn ich mich lagerte in der Unterwelt - siehe, da bist du.
9 Nähme ich die Flügel des Morgenrots, ließe ich mich nieder am Ende des Meeres,
10 auch dort würde deine Hand mich leiten und deine Rechte mich ergreifen.
11 Würde ich sagen: Finsternis soll mich verschlingen und das Licht um mich soll Nacht sein!
12 Auch die Finsternis ist nicht finster vor dir, die Nacht leuchtet wie der Tag, wie das Licht wird die Finsternis.
13 Du selbst hast mein Innerstes geschaffen, hast mich gewoben im Schoß meiner Mutter.
14 Ich danke dir, dass ich so staunenswert und wunderbar gestaltet bin. Ich weiß es genau: Wunderbar sind deine Werke.
15 Dir waren meine Glieder nicht verborgen,/ als ich gemacht wurde im Verborgenen, gewirkt in den Tiefen der Erde.
16 Als ich noch gestaltlos war, sahen mich bereits deine Augen. In deinem Buch sind sie alle verzeichnet: die Tage, die schon geformt waren, als noch keiner von ihnen da war.
17 Wie kostbar sind mir deine Gedanken, Gott! Wie gewaltig ist ihre Summe!
18 Wollte ich sie zählen, sie sind zahlreicher als der Sand. Ich erwache und noch immer bin ich bei dir.
19 Wolltest du, Gott, doch den Frevler töten! Ihr blutgierigen Menschen, weicht von mir!
20 Sie nennen dich in böser Absicht, deine Feinde missbrauchen deinen Namen.
21 Sollen mir nicht verhasst sein, HERR, die dich hassen, soll ich die nicht verabscheuen, die sich gegen dich erheben?
22 Ganz und gar sind sie mir verhasst, auch mir wurden sie zu Feinden.
23 Erforsche mich, Gott, und erkenne mein Herz, prüfe mich und erkenne meine Gedanken!
24 Sieh doch, ob ich auf dem Weg der Götzen bin, leite mich auf dem Weg der Ewigkeit!