
Fragment im Kreuzgang des Paderborner Domes.
Foto: Marlies Fricke
Freitagnachmittag, drei Uhr. Die letzten Marktstände werden abgebaut, eine junge Frau verstaut einen bunten Tulpenstrauß in ihrem Einkaufskorb. Die schwere Friedensglocke im Paderborner Domturm beginnt ihr dunkles Geläut, wie jeden Freitag „zur neunten Stunde“ (Lk 23,44). Erinnerung an die Todesstunde Jesu, damals auf Golgota.
Für die Stadtbewohner, insbesondere die älteren, ist in diesem Jahr noch eine weitere Erinnerung mit dem freitäglichen Geläut verbunden: Vor genau 75 Jahren, Ende März 1945, wurde ihre Stadt zum zweitletzten Mal von amerikanischen und englischen Bomben heimgesucht. Noch heute zeugt das Fragment einer Luftmine im Kreuzgang des Domes (Bild oben) von diesen dunklen Tagen. Wieviel Verwundung und Zerstörung, wieviel Schmerz und Tod wurde über die Häuser, Straßen und Menschen gebracht! Bis heute liegt der „Monte Scherbelino“ wie ein Wundmal am Rande der Stadt. Die Totenleuchte an der südlichen Außenseite der Kathedrale wird auch an diesem 22. März wieder brennen. - Eine Stadt hat Formen und Rituale gefunden, um mit ihren Wunden umzugehen.
Niemand von uns ist unverwundet, niemand ist unverwundbar, kein Mensch, keine Stadt, kein Land, kein Kontinent; wie deutlich spüren wir das gerade jetzt durch die globale Corona-Krise. Zu den Lebenserfahrungen jedes Menschen gehören Verletzungen, Brüche, Narben – ob kollektiv oder individuell. Wie können wir mit ihnen umgehen? Wie können wir uns im Glauben den Verwundungen nähern und sie im Licht des Evangeliums deuten? Zunächst mögen drei Gleichnisse helfen und dazu ermutigen,
- Verwundungen wahrzunehmen und anzuschauen,
- Verwundungen zu akzeptieren und sie wandeln oder heilen zu lassen,
- Verwundungen nützlich und fruchtbar werden zu lassen.
In Japan gibt es den schönen Brauch, die geklebten Stellen einer zerbrochenen Vase oder Schale zu vergolden. Die Bruchstellen werden also nicht versteckt, sondern bewusst sichtbar gemacht und gewürdigt. – Ja, Verwundungen können schön und echt machen!
Wenn in eine Muschel ein Fremdkörper, zum Beispiel ein Sandkorn oder eine Milbe, eindringt und sie verletzt, integriert die Muschel in ihrer Not den ungebetenen Gast, indem sie eine Perle um ihn herum wachsen lässt. Glücklich, wer eine solche Perle sein eigen nennt (Mt 13,46)! – Ja, Verwundungen können über-wunden und zu wahren Schätzen werden!
Nach „sieben Wochen ohne“ wird uns bald in der Osternacht wieder wohlriechender Weihrauch in die Nase steigen. Im Festglanz ist wenigen bewusst, dass dieser Duft dem verwundeten Weihrauchbaum zu verdanken ist, seinem Gummiharz, das ihm von Menschenhand abgerungen wurde. – Ja, Verwundungen können (für andere) nützlich sein!
An meinem linken Daumen habe ich seit vielen Jahren eine kleine Narbe, die ich mir mit der Astschere zugezogen habe. - Tragen Sie, liebe Leserin, lieber Leser, Narben an Ihrem Körper? Ich lade Sie ein, ihre eigenen Narben ruhig einmal anzusehen, ganz behutsam und liebevoll. Vielleicht sie auch zu berühren. Was können diese Narben erzählen von Momenten oder Wegstrecken Ihres Lebens? Geschichten von einer Krankheit oder einem Unfall, von einer Enttäuschung oder einem Ringen? Kennen Sie etwa das Gefühl des biblischen Jakob, der plötzlich „an seiner Hüfte hinkte“ und dennoch weiterzog (Gen 32,32)? Aber auch Geschichten vom Gesund- und Heilwerden, von Befreiung und überwundenem Leid, vom Versöhnen und Neubeginnen können Ihre Narben hoffentlich erzählen. Ja, legen Sie bewusst einmal Ihre Finger auf Ihre - äußeren und vielleicht auch inneren - Wundmale und „hören“ sie ihnen zu, so wie der Apostel Thomas seine Finger auf die Wundmale Jesu legen durfte, um die Wahrheit mehr und staunend zu „begreifen“ (Joh 20,24-29). – Sie können sich dabei auch fragen: Wie hat Gott mich durch das Erlebte geführt, mich vielleicht sogar wachsen lassen? Kann ich im Rückblick auch „Goldkanten“, „Perlen“ oder „Düfte“ entdecken?
„Sei nicht ungläubig, sondern gläubig“, sagt Jesus zu Thomas und auch zu uns in dieser oft so heillosen Welt. Denn ihm, Jesus, begegnen wir als Gläubige in den Wunden unserer Welt, in Syrien, in Christchurch und an vielen, vielen anderen Orten. „Jesus identifizierte sich mit allen Kleinen und Leidenden – also sind alle schmerzenden Wunden, das ganze Leid der Welt und der Menschheit die Wunden Christi“, so der Autor Tomas Halik in seinem Buch ‚Berühre die Wunden‘. „Wir dürfen vor den Wunden der Welt nicht fliehen und ihnen unseren Rücken zuwenden, wir müssen sie zumindest sehen, berühren und uns von ihnen ergreifen lassen.“ Die inneren Schmerzen der Menschen um uns herum und auch die ungeheilten Wunden in uns selbst spricht der Prager Psychotherapeut und Priester an. Wenn wir uns ihnen stellen, „tragen wir auch zur Heilung der Welt bei“. Jede und jeder von uns hat es also mit in der Hand, wie heil oder unheil unsere Welt ist.
Das spüren wir gerade in diesen Tagen, wo so viel Zusammenhalt und Rücksichtnahme im gesellschaftlichen Leben erforderlich ist. Wir spüren auch, wie verletzlich und ausgeliefert wir sind. - Ging es Jesus nicht ähnlich auf seinem Weg? Verwundbar und berührbar will er uns in diesen Wochen der Fastenzeit begegnen, zum Glück ohne Anderthalb-Meter-Abstand. Weichen wir ihm nicht aus.
Mit herzlichen Grüßen – bleiben Sie gesund!
Marlies Fricke (GCL)
Vor dem Entzünden des Osterkerze in der Osternacht befestigt der Priester die fünf „Wundmale Christi“ im Wachs der Kerze – ein Ritual, das noch einmal die Lesung vom Karfreitag aus dem Propheten Jesaja unterstreicht: Durch seine Wunden sind wir geheilt.

Die fünf „Wundmale Christi“ für die Osterkerze liegen bereit.
Foto: M. Fricke
Jesaja 53,1-5
1 Wer hat geglaubt, was wir gehört haben? / Der Arm des HERRN - wem wurde er offenbar?
2 Vor seinen Augen wuchs er auf wie ein junger Spross, / wie ein Wurzeltrieb aus trockenem Boden.
Er hatte keine schöne und edle Gestalt, / sodass wir ihn anschauen mochten.
Er sah nicht so aus, / dass wir Gefallen fanden an ihm.
3 Er wurde verachtet und von den Menschen gemieden, / ein Mann voller Schmerzen, / mit Krankheit vertraut.
Wie einer, vor dem man das Gesicht verhüllt, / war er verachtet; wir schätzten ihn nicht.
4 Aber er hat unsere Krankheit getragen / und unsere Schmerzen auf sich geladen.
Wir meinten, er sei von Gott geschlagen, / von ihm getroffen und gebeugt.
5 Doch er wurde durchbohrt wegen unserer Vergehen, / wegen unserer Sünden zermalmt.
Zu unserem Heil lag die Züchtigung auf ihm, / durch seine Wunden sind wir geheilt.