
Foto: Thomas Gertler
Als ich von Augsburg hierher nach Göttingen kam, sagte ich mir: „Das wird jetzt deine letzte Stelle, Thomas, vielleicht kommt dann noch das Altersheim, aber das ist es jetzt. Das ist deine letzte Stelle.“ Ich spüre es ja auch leibhaftig. Ich bin keine vierzig und auch keine sechzig, sondern über siebzig. Die Kräfte lassen nach. Und auch die Lust zu vielem schwindet. Und die Lust oder der Spaß oder die Freude waren immer meine stärkste Motivation.
Viele sagen: „Du siehst noch viel jünger aus. Nein, die Siebzig glauben wir dir nicht.“ Ja, das weiß ich und es ist auch manchmal so, dass ich mich jünger fühle, aber dann spüre ich die über Siebzig doch wieder sehr deutlich. Und dann bin ich müde und sage mir: Das ist normal in dem Alter und früher hätte vielleicht längst schon im Katalog mit den Namen, Adressen und Tätigkeiten von uns Jesuiten hinter meinem Namen gestanden: „orat pro Ecclesia et Societate – betet für die Kirche und die Gesellschaft Jesu“. Die letzte und vielleicht wichtigste aller Tätigkeiten eines Jesuiten – glaubt nur immer keiner. Jedenfalls viele von uns Jesuiten nicht.
Es klingt in meinem Leben also alles nach Abschied und langsamer Einstellung hin auf das Sterben. Und im Großen und Ganzen bin ich auch damit einverstanden. Das fällt mir nicht so schwer wie manchen anderen meiner Zunft, die ganz und gar nicht loslassen und sein lassen können. Sie haben irgendwann den Zeitpunkt verpasst und bringen damit oft ihr eigenes Lebenswerk zum Einsturz. Das habe ich mehrfach erlebt. Weil er partout nicht los lässt und loslassen kann, macht er sich selbst und sein oft so segensreiches Werk kaputt. Selbstzerstörerisch. Wir kennen das ja auch häufig aus der Politik. Was ist das dann oft ein furchtbares und quälendes Ende!
Mir war immer unser Erfurter Philosophieprofessor Erich Kleineidam ein Vorbild. Er hörte mit 65 auf zu lehren, obwohl so viele sagten: „Bitte, Herr Professor, Sie können doch noch so gut, machen Sie doch auf jeden Fall weiter.“ Er antwortete: „Jetzt kann ich noch selbst aufhören und habe auch noch das Urteil dazu, Schluss zu machen. Ich möchte nicht erleben, dass man mir sagt und gar sagen muss: Es geht nicht mehr!“ Ja, das war mir ein Vorbild. Er hat dann immerhin noch im Ruhestand die vierbändige Geschichte der Erfurter Universität zu Ende geschrieben.
Ja, warum erzähle ich Ihnen das alles? Weil ich eine wichtige Einsicht geschenkt bekommen habe. Ja, es stimmt, es ist jetzt der letzte Abschnitt meines Lebens. Und es ist wichtig, das auch zu sehen und dazu Ja zu sagen und das Loslassen zu üben. Aber das bedeutet eben nicht, einfach alles fallen und gehen zu lassen, schon gar nicht sich selbst gehen zu lassen und sich der immer trauriger machenden Trägheit zu überlassen, wozu zusätzlich Corona verführt. Also schon so langsam abzusterben. Ja, das geschieht und die Versuchung ist groß, dem immer mehr nachzugeben, weil ja doch alles keinen Zweck (mehr) hat.
Nein, das bedeutet es eben gerade nicht, immer mehr der Entropie folgen, bis sich nichts mehr rührt. Nein, auch jetzt soll ich leben, voll und ganz. Mit all den Kräften, die ich noch habe und all den vielen Erfahrungen, die sich in mir gesammelt haben, vor allem im Umgang und in der Begleitung von vielen Menschen. Ja, mit all dem soll ich leben und mich einsetzen und tun, was ich kann. Und das macht mich auch jetzt froh und das belebt mich. Ohne dass ich so tue, als gäbe es das gespürte Ende nicht und ginge es ewig weiter. Nein, das Ende und der Tod kommen auf mich zu, aber Jesus ist die Auferstehung und das Leben. Auch und gerade jetzt. Das ist der Sinn der Geschichte von der Auferweckung des Lazarus, dem Freund Jesu. Es geht genau um das, was Jesus zu Marta sagt: „Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt, und jeder der lebt und an mich glaubt, wird auf ewig nicht sterben. Glaubst du das?“ (Joh 11,26) Marta glaubt es und auch ich glaube es. Die Auferstehung und das Leben fangen mitten in diesem sterblichen und vom Tode gezeichneten Leben an. Er holt mich aus dem Grab.
Das ist es, was mir als Geschenk zuteilwurde und was ich Ihnen gern zu Ostern weitergeben möchte!
Gesegnete Kar- und Ostertage
Thomas Gertler SJ
31. März 2021
Die Geschichte von der Erweckung des Lazarus ist die Vorbereitung auf Ostern, oder wie Schwester Margareta Gruber sagt, „die Hauptprobe der Auferstehung Jesu“. Sie wollen wir hier noch einmal lesen und uns im Bild von Giotto anschauen.
Johannes 11,1 - 45
11, 1 Ein Mann war krank, Lazarus aus Betanien, dem Dorf der Maria und ihrer Schwester Marta. 2 Maria war jene, die den Herrn mit Öl gesalbt und seine Füße mit ihren Haaren abgetrocknet hatte; deren Bruder Lazarus war krank. 3 Daher sandten die Schwestern Jesus die Nachricht: Herr, sieh: Der, den du liebst, er ist krank. 4 Als Jesus das hörte, sagte er: Diese Krankheit führt nicht zum Tod, sondern dient der Verherrlichung Gottes. Durch sie soll der Sohn Gottes verherrlicht werden. 5 Jesus liebte aber Marta, ihre Schwester und Lazarus. 6 Als er hörte, dass Lazarus krank war, blieb er noch zwei Tage an dem Ort, wo er sich aufhielt. 7 Danach sagte er zu den Jüngern: Lasst uns wieder nach Judäa gehen. 8 Die Jünger sagten zu ihm: Rabbi, eben noch suchten dich die Juden zu steinigen und du gehst wieder dorthin? 9 Jesus antwortete: Hat der Tag nicht zwölf Stunden? Wenn jemand am Tag umhergeht, stößt er nicht an, weil er das Licht dieser Welt sieht; 10 wenn aber jemand in der Nacht umhergeht, stößt er an, weil das Licht nicht in ihm ist. 11 So sprach er. Dann sagte er zu ihnen: Lazarus, unser Freund, schläft; aber ich gehe hin, um ihn aufzuwecken. 17 Als Jesus ankam, fand er Lazarus schon vier Tage im Grab liegen. 18 Betanien war nahe bei Jerusalem, etwa fünfzehn Stadien entfernt. 19 Viele Juden waren zu Marta und Maria gekommen, um sie wegen ihres Bruders zu trösten. 20 Als Marta hörte, dass Jesus komme, ging sie ihm entgegen, Maria aber blieb im Haus sitzen. 21 Marta sagte zu Jesus: Herr, wärst du hier gewesen, dann wäre mein Bruder nicht gestorben. 22 Aber auch jetzt weiß ich: Alles, worum du Gott bittest, wird Gott dir geben. 23 Jesus sagte zu ihr: Dein Bruder wird auferstehen. 24 Marta sagte zu ihm: Ich weiß, dass er auferstehen wird bei der Auferstehung am Jüngsten Tag. 25 Jesus sagte zu ihr: Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt, 26 und jeder, der lebt und an mich glaubt, wird auf ewig nicht sterben. Glaubst du das? 27 Marta sagte zu ihm: Ja, Herr, ich glaube, dass du der Christus bist, der Sohn Gottes, der in die Welt kommen soll. 28 Nach diesen Worten ging sie weg, rief heimlich ihre Schwester Maria und sagte zu ihr: Der Meister ist da und lässt dich rufen. 29 Als Maria das hörte, stand sie sofort auf und ging zu ihm. 30 Denn Jesus war noch nicht in das Dorf gekommen; er war noch dort, wo ihn Marta getroffen hatte. 31 Die Juden, die bei Maria im Haus waren und sie trösteten, sahen, dass sie plötzlich aufstand und hinausging. Da folgten sie ihr, weil sie meinten, sie gehe zum Grab, um dort zu weinen. 32 Als Maria dorthin kam, wo Jesus war, und ihn sah, fiel sie ihm zu Füßen und sagte zu ihm: Herr, wärst du hier gewesen, dann wäre mein Bruder nicht gestorben. 33 Als Jesus sah, wie sie weinte und wie auch die Juden weinten, die mit ihr gekommen waren, war er im Innersten erregt und erschüttert. 34 Er sagte: Wo habt ihr ihn bestattet? Sie sagten zu ihm: Herr, komm und sieh! 35 Da weinte Jesus. 36 Die Juden sagten: Seht, wie lieb er ihn hatte! 37 Einige aber sagten: Wenn er dem Blinden die Augen geöffnet hat, hätte er dann nicht auch verhindern können, dass dieser hier starb? 38 Da wurde Jesus wiederum innerlich erregt und er ging zum Grab. Es war eine Höhle, die mit einem Stein verschlossen war. 39 Jesus sagte: Nehmt den Stein weg! Marta, die Schwester des Verstorbenen, sagte zu ihm: Herr, er riecht aber schon, denn es ist bereits der vierte Tag. 40 Jesus sagte zu ihr: Habe ich dir nicht gesagt: Wenn du glaubst, wirst du die Herrlichkeit Gottes sehen? 41 Da nahmen sie den Stein weg. Jesus aber erhob seine Augen und sprach: Vater, ich danke dir, dass du mich erhört hast. 42 Ich wusste, dass du mich immer erhörst; aber wegen der Menge, die um mich herumsteht, habe ich es gesagt, damit sie glauben, dass du mich gesandt hast. 43 Nachdem er dies gesagt hatte, rief er mit lauter Stimme: Lazarus, komm heraus! 44 Da kam der Verstorbene heraus; seine Füße und Hände waren mit Binden umwickelt und sein Gesicht war mit einem Schweißtuch verhüllt. Jesus sagte zu ihnen: Löst ihm die Binden und lasst ihn weggehen! 45 Viele der Juden, die zu Maria gekommen waren und gesehen hatten, was Jesus getan hatte, kamen zum Glauben an ihn.