Staunen

Foto: Chaojoker - CC BY-SA 3.0

 

Stellen Sie sich vor, Sie machen einen Spaziergang durch die Heide. Sie biegen um eine Hecke. Siehe da eine Schafherde. Eines davon schaut sie an, genau wie oben und – und jetzt kommt Morgensterns Gedicht:

Erschrocken staunt der Heide Schaf mich an,
als sähs in mir den ersten Menschenmann.
Sein Blick steckt an; wir stehen wie im Schlaf;
mir ist, ich säh zum ersten Mal ein Schaf.

Ja, das kann ich mir gut vorstellen. Es hat mich öfter schon ein Schaf so angestaunt. Und auch dass das Staunen ansteckt, habe ich erlebt. Ich staune über das Schaf. Welch ein Wunder! Das erste Schaf, das ich so ganz bewusst und staunend ansehe. Eben weil mich dieses Schaf so überrascht und erstaunt anblickt.

Christian Morgenstern hat sein Gedicht: „Geburtsakt der Philosophie“ genannt. Natürlich wieder mit einem Schmunzeln und mit Heiterkeit seinerseits. Eigentlich ist Philosophie eine ernste Sache, hoch erhaben und ehrwürdig. Da gilt das Schaf als eher dumm und nicht wie hier als der erste Lehrer der Philosophie. Morgenstern ist aber gut gebildet und weiß, dass nach uralter bis zu den Griechen hinabreichender Tradition, das Staunen der Beginn der Philosophie ist. So sagt der Philosoph Platon (gest. 348/347 v. Chr.): „Das Staunen ist die Einstellung eines Mannes, der die Weisheit wahrhaft liebt, ja es gibt keinen anderen Anfang der Philosophie als diesen.“ Also das Staunen ist der Geburtsakt der Philosophie. Bei Morgenstern ganz brav durch das Schaf.

Und dazu möchte ich Sie am Beginn des Neuen Jahres einladen – wieder einmal zu staunen. Das können ja Kinder am besten. Denn sie erleben ganz vieles zum ersten Mal. Darum können sie auch die philosophischsten Fragen stellen, auf die wir oft keine Antwort wissen. „Wo war ich, bevor ich auf der Welt war?“ „Gibt es ein Tier mit drei Ohren?“ „Wie kommen die Gedanken in meinen Kopf?“ „Warum war ich im Bauch von der Mama und nicht dem Papa?“ „Warum sind nasse Dinge dunkler?“ „Wo sitzt die Seele?“ „Können Bäume traurig sein?“ „Mama, wieso sind die Nasenlöcher eigentlich so groß, dass da die Finger reinpassen, und trotzdem soll man sie nicht reinstecken?“

Ja, das sind so Kinderfragen, über die wir ins Grübeln und ins Lächeln kommen. Kinder sind oft schon sehr philosophisch. Sie suchen die Welt zu verstehen. Aber ich möchte eigentlich mehr auf das Staunen schauen, das mit dem Bewundern zu tun hat. Vielleicht erinnern Sie sich noch, als Sie im Wald Ihre erste Feder von einem Eichhäher gefunden haben, die so blau leuchtete.

Das ist doch wirklich ein Wunder und muss in die ganz private und heimliche Schatzkiste. Oder wie Sie als Kind den Bart vom Vater bewundert und bestaunt und untersucht haben. Und auch wenn der Bart rasiert war, wie man sich trotzdem daran reiben und so schön kratzen konnte. Wunderbar. Dieses Staunen und Wundern meine ich. Das macht froh, weil ich etwas neu entdecke und begreife. Das hat genauso mit Freude und Liebe zu tun.

Ja, so finden wir dieses Stauen oft in der Bibel und besonders auch in den Kindheitsgeschichten und weihnachtlichen Texten. Suchen Sie einmal! Staunen eben ist nicht nur Anfang der Philosophie sondern vorher noch der Religion, des Glaubens und der Theologie. Und da findet sich beiderlei Staunen: das erschrockene Staunen, und das hocherfreute und beschenkte und schenkende Staunen wie das der drei heiligen Sterndeuter aus dem Morgenland, die wir feiern. Gott ist das mysterium tremendum et fascinosum, das Schrecken erregende und Staunen erregende, faszinierende Geheimnis.

Möge das erfreute Staunen das erschrockene Staunen im Neuen Jahr überwiegen!

Das wünsche ich Ihnen und uns.
Thomas Gertler SJ

6. Januar 2021

Über unserem Impuls steht das staunende Schaf. Auf dem Bild von Giotto sehen wir das staunende und lachende Kamel mit offenem Maul. Wunderbar! Und natürlich die von anbetendem Staunen ergriffenen drei Sterndeuter, die als Personen zugleich die Weltgegenden und die Lebensalter symbolisieren. Im Text aus dem Matthäusevangelium ist auch vom erschrockenen Staunen des Herodes und der Stadt Jerusalem zu lesen. Das hocherfreute Staunen aber ergreift natürlich die drei Sterndeuter und ihr Kamel.

 

Matthäus 2,1 - 12

2,1 Als Jesus zur Zeit des Königs Herodes in Betlehem in Judäa geboren worden war, siehe, da kamen Sterndeuter aus dem Osten nach Jerusalem 2 und fragten: Wo ist der neugeborene König der Juden? Wir haben seinen Stern aufgehen sehen und sind gekommen, um ihm zu huldigen. 3 Als König Herodes das hörte, erschrak er und mit ihm ganz Jerusalem. 4 Er ließ alle Hohepriester und Schriftgelehrten des Volkes zusammenkommen und erkundigte sich bei ihnen, wo der Christus geboren werden solle. 5 Sie antworteten ihm: in Betlehem in Judäa; denn so steht es geschrieben bei dem Propheten: 6 Du, Betlehem im Gebiet von Juda, bist keineswegs die unbedeutendste unter den führenden Städten von Juda; denn aus dir wird ein Fürst hervorgehen, der Hirt meines Volkes Israel. 7 Danach rief Herodes die Sterndeuter heimlich zu sich und ließ sich von ihnen genau sagen, wann der Stern erschienen war. 8 Dann schickte er sie nach Betlehem und sagte: Geht und forscht sorgfältig nach dem Kind; und wenn ihr es gefunden habt, berichtet mir, damit auch ich hingehe und ihm huldige! 9 Nach diesen Worten des Königs machten sie sich auf den Weg. Und siehe, der Stern, den sie hatten aufgehen sehen, zog vor ihnen her bis zu dem Ort, wo das Kind war; dort blieb er stehen. 10 Als sie den Stern sahen, wurden sie von sehr großer Freude erfüllt. 11 Sie gingen in das Haus und sahen das Kind und Maria, seine Mutter; da fielen sie nieder und huldigten ihm. Dann holten sie ihre Schätze hervor und brachten ihm Gold, Weihrauch und Myrrhe als Gaben dar. 12 Weil ihnen aber im Traum geboten wurde, nicht zu Herodes zurückzukehren, zogen sie auf einem anderen Weg heim in ihr Land.