So scheint es gegenwärtig hier bei uns in Mitteleuropa zu sein. Spiritualität ist sympathisch. Religionszugehörigkeit dagegen ist unmodern. Spirituell ist nahezu jeder Mensch, sogar ungläubige Spiritualität gibt es. Aus ihrer Religion hingegen wollen viele heraus. Spiritualität macht gelassen und frei. Religion bindet und macht unfrei. Spiritualität ist an keine Institution gebunden. Religionen sind Institutionen und haben Regeln, Rituale und Machtapparate. Spiritualität ist vielfältig, offen und tolerant. Religion verlangt Entscheidung, Zugehörigkeit und ist intolerant. Spiritualität lässt das Größere und Umfassendere erleben. Religion ist mit uralten theologischen Lehren und Katechismen befrachtet.
Diese Zuteilungen sind jedem schon irgendwie begegnet, wenn nicht so direkt ausgesprochen, aber doch irgendwie gespürt und gefühlt. Es ist so die Stimmung. Und die ist ziemlich heftig. Damit kommt das Spirituelle dem freiheitsliebenden, vielfältigen, ungebundenen Menschen der Moderne sehr entgegen. Während es die Religion gerade sehr schwer hat und auf dem absteigenden Ast zu sein scheint. Das Christentum besonders, gerade wegen seiner so sehr ausgebauten Institutionen. Und zuletzt natürlich wegen der ungezählten Skandale und Verbrechen. Die Stimmung ist im Moment eher so: „Was, du bist noch nicht aus der Kirche ausgetreten? Da bist du aber spät dran. Sieh zu, dass du nicht der letzte bist!“
Genauso klar ist einem jeden, dass das alles eher im Bereich der Stimmungen und Gefühle so ist und daher selbst kritisch angesehen werden muss. Denn im Konkreten gehören Spiritualität und Religion zusammen, sind nur zwei Seiten einer Medaille.
Spiritualität, die nicht nur kurzfristig sein will, sondern bleibend und prägend, geht unweigerlich in den Bereich des Institutionell-Religiösen hinüber. Egal ob nun für den einzelnen, der spirituell sein will und täglich übt und darum Gewohnheiten annimmt. Oder für die Gruppe, die beieinanderbleiben will und darum Treffzeiten und Orte vereinbart und damit ebenfalls in den Bereich des Institutionellen hineingerät.
Religion andererseits, die noch irgendjemanden begeistern will, muss spirituell, also „geist-voll“ sein, sonst wird sie eben bloße Gewohnheit und Brauch ohne Inhalt. Und das ist ständig die Gefahr seit den Zeiten Jesu und schon vorher. Immer wieder erstarren die Religionen und brauchen spirituelle Erneuerung. Das scheint gegenwärtig bei uns der Fall zu sein. Das Christentum leidet an einer starken Über-Institutionalisierung: zu viele Kirchen, zu viele Pfarrhäuser ohne Pfarrer, zu viele Kindergärten mit zu wenigen christlichen Kindern, zu viele katholische und evangelische Krankenhäuser, zu große Fakultäten und Priesterseminare ohne Studenten und Kandidaten. Und keine Begeisterung und zu wenig Spiritualität. Keine Leichtigkeit und Fröhlichkeit, fast nur Schwere und Ernst. Jedenfalls im Vordergrund und im Bereich des Sichtbaren und Wahrgenommenen.
Das ist zum Glück nicht immer und überall so. Es gilt vor allem für unseren deutschsprachigen und mitteleuropäischen Raum. Weltweit gesehen gibt es Fröhlichkeit und Leichtigkeit, gibt es volle Kirchen und glückliche Gemeinden, die das auch ausstrahlen und die wachsen und gedeihen. Freilich sind sie auch nicht ohne Probleme, auch massive und starke Probleme, aber sie sind lebendig und haben eine selbstverständliche und starke Spiritualität. Sie würden das jedoch eher Frömmigkeit oder Gottesbeziehung nennen und nicht so neutral „Spiritualität“ wie hier, wo Spiritualität eben bewusst religionsneutral sein will.
Woher kommt uns wieder der Geist? Woher kommt uns wieder Begeisterung? Sie kommen von dem, der den glimmenden Docht nicht löscht und das geknickte Rohr nicht bricht. Sie kommen von dem der den glimmenden Doch wieder entfacht und das geknickte Rohr wieder aufrichtet.
Schauen Sie sich danach um, wo das Feuer noch glimmt, in Ihnen oder auch anderswo und helfen Sie mit, es neu zu entfachen.
Es grüßt Sie herzlich
Thomas Gertler SJ
01. November 2023
Das tröstende Wort vom glimmenden Docht und vom geknickten Rohr findet sich beim Propheten Jesaja. Es ist auf den kommenden Erlöser gemünzt. Der Evangelist Matthäus (12,15ff) sieht es im Auftreten Jesu erfüllt. Jesus ist es, der uns seinen Geist schenkt und das glimmende Feuer wieder entfacht und das geknickte Rohr, das wir sind, wieder aufrichtet und heil werden lässt.

Foto: Ashley Van Haeften - CC BY 2.0
Jesaja 42,1 - 4
42,1 Siehe, mein Knecht, den ich stütze, mein Auserwählter, an dem meine Seele Wohlgefallen hat: Ich habe meinen Geist auf ihn gelegt, er wird den Nationen das Recht kundtun. 2 Er wird nicht schreien und nicht rufen und seine Stimme nicht hören lassen auf der Straße. 3 Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen, und den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen; er wird der Wahrheit gemäß das Recht kundtun. 4 Er wird nicht ermatten und nicht niedersinken, bis er das Recht auf der Erde gegründet hat…