Seinen Drachen steigen lassen

Foto: Thomas Gertler

Das ist das letzte Bild von meinem Urlaub in Warnemünde. Ziemlich in der Mitte sehen Sie weit weg den grünen Leuchtturm an der Spitze der Mole. Ein strahlender Tag mit so leuchtenden Farben und nun ist auch wieder die Zeit, seinen Drachen fliegen zu lassen. Ein großer Spaß für die Kinder und für die Eltern, die dann wieder jung werden. In meiner Jugendzeit gab es eigentlich nur eine Sorte von Drachen, die man oft auch selbst baute. Auf ein Lattenkreuz wurde ein festes Papier oder heute Polyester in Rhomben Form gespannt und dann ging es los. Man musste gut rennen können, um ihn in die Luft zu kriegen und seinen Drachen wirklich steigen zu lassen. Darum im Herbst, weil da die Herbstwinde wehen, aber an der See auch mal zwischendurch. Denn da weht es immer irgendwie…

Wann haben Sie zum letzten Mal einen Drachen steigen lassen oder waren dabei, wenn die Kinder oder Enkel ihren Drachen steigen ließen?

Die beiden Kinder auf dem Bild haben andere Drachen als wir früher. Sie stammen ihrer Form nach aus Asien. Sie gehen leichter hoch und halten sich auch stabiler in der Luft. Sie nutzen den Wind besser aus durch ihre andere Form. Die Ursprünge der Drachen liegen übrigens so im 5. Jh vor Christus in China. Na klar! Manche waren nur den Königen vorbehalten und stiegen als Glückssymbol zum Himmel. Und ihr Seil wurde dann gekappt und der Königsdrache konnte ganz frei fliegen.

Die Drachen waren zunächst aus teurer Seide gemacht. Erst durch die Erfindung des Papiers wurde der Drache Massenware und verbreitete sich auch in anderen Ländern. Bei uns in Europa kamen die asiatischen Fessel-Drachen erst im 17. Jh. an. Wie heute immer noch zunächst einmal als Kinderspielzeug, dann aber immer mehr für wissenschaftliche (meteorologische) und militärische Zwecke. Aber das soll nicht unser Thema sein, sondern die Frage, warum wir solche Freude daran haben, einen Drachen steigen zu lassen. Erinnern Sie sich an diese Freude?

Ja, man hat das freudige Gefühl, dass da etwas Lebendiges ist, das man an der Leine hält, denn der Wind hält den Drachen in ständiger Bewegung und man muss ihn wirklich gut führen und lenken, damit er oben bleibt. Flieg, Drachen, flieg!

Seinen Drachen fliegen zu lassen ist nicht nur der Spaß, ihn an der Leine zu fühlen und zu führen, ihn zu beherrschen. Nein, der fliegende Drachen weckt Sehnsucht in uns, selbst fliegen zu können. Und tatsächlich hat dieses Kinderspiel dazu beigetragen, Gleitsegler und schließlich Flugzeuge zu bauen. Es hat dazu beigetragen, darüber nachzudenken, tatsächlich wie ein Drache oder ein Vogel fliegen zu können und die Luft tragfähig zu machen.

Zum anderen weckt so ein Drache an der Schnur aber auch die menschlich Ur-Sehnsucht nach oben, ins Licht. So ein Drache weckt die Sehnsucht nach dem Himmel, danach, nicht nur seinen Körper sondern auch seine Seele zum Himmel aufsteigen zu lassen. Aller Erdenschwere und allem Schwierigen und allen Erschwernissen zu entfliehen, ganz leicht zu werden, es leicht zu nehmen und tatsächlich ganz und gar wie der Atem, wie die Luft, wie der Wind, wie der Geist Gottes frei zu sein, alle Leinen los zu werden. Ungebunden und frei. Wie es Reinhard Mey in einem seiner bekanntesten Lieder singt: „Über den Wolken…“. Und da ist uns heute auch klar, dass das Flugzeug eben nur ein Symbol – wie der Drachen – ist und dass es auf diesen freien Geist ankommt. Das singt auch Reinhard Mey so schön, dass wir diese Sehnsucht nach der schwerelosen Freiheit so durch und durch spüren.

All das steckt im Drachenfliegen und das steckt auch immer im Urlaub mit drin. Das Wort Urlaub hat ja nichts mit Laub oder gar dem Laub im Urwald zu tun, sondern es kommt ja von „Erlaubnis“, nämlich der Erlaubnis nämlich sich vom Hof, vom Dienst entfernen zu dürfen.

Jetzt nähere ich mich wieder dem Dienst, der Urlaub ist vorbei, der Drachen ist wieder gelandet, aber die Freiheit des Geistes nehme ich mit. Und das wünsche ich auch Ihnen: die Freiheit des Geistes und die Freiheit des Gottesgeistes.

Es grüßt Sie herzlich
Thomas Gertler

1. September 2021

Der Kolosserbrief lädt uns ein, dass wir uns ausrichten auf diesen Raum der Freiheit, des Lichtes, des Himmels. Und es ist wichtig, dass wir immer wieder bewusst nach oben und zum Himmel schauen. Das richtet uns auf und gibt uns eine andere Stimmung und Ausrichtung – in die Weite, in die Freiheit. Probieren Sie es aus. Es wirkt.

 

Brief an die Kolosser 3,1 - 4

3,1 Seid ihr nun mit Christus auferweckt, so strebt nach dem, was oben ist, wo Christus zur Rechten Gottes sitzt! 2 Richtet euren Sinn auf das, was oben ist, nicht auf das Irdische! 3 Denn ihr seid gestorben und euer Leben ist mit Christus verborgen in Gott. 4 Wenn Christus, unser Leben, offenbar wird, dann werdet auch ihr mit ihm offenbar werden in Herrlichkeit.