
Foto: Sailko – CC BY-SA 4.0
Haben Sie schon einmal von Konrad Stauss (*1943) gehört? Das ist ein Psychotherapeut, der 2016 leider gestorben ist und der sich intensiv mit Vergebung und Versöhnung befasst und daraus ein Modell von sieben Schritten entwickelt hat. Mit ganz vielen Menschen ist er den Weg der Vergebung und Versöhnung gegangen. Darüber gibt es auch ein Buch. Dass es sieben Schritte braucht, zeigt schon, dass Vergebung und Versöhnung innerhalb eines Prozesses geschehen, also nicht einfach durch einen bloßen Willensentschluss passieren, nein, es braucht Zeit und Seelen-Arbeit. Die Schritte müssen nacheinander gegangen werden. Jeder Schritt ist wieder eine neue Herausforderung.
Vergebung und Versöhnung sind dabei zwei verschiedene Dinge. Vergebung ist zuerst eine Sache im Inneren dessen, dem Unrecht und Leid zugefügt wurde. Versöhnung steht am Schluss und ist eine Sache zwischen den Beteiligten, also zwischen Opfer und Täter und ist eine gemeinsame Sache.
Wir beginnen mit der ersten Phase, nämlich dem Weg der Vergebung: Dabei ist der erste Schritt das Zulassen von Wut und Schmerz. Wut wegen des Unrechts, das mir geschehen ist, Schmerz wegen der Verletzung, die mir zugefügt wurde. Ich muss da wieder hinein. Das ist der Weg des Kreuzes. Und ich darf diesen heftigen Gefühlen auch körperlich Ausdruck verleihen und muss es vielleicht auch. Schreien, Stöhnen, Schimpfen, vielleicht auch Holzhacken…
Der nächste Schritt ist die Anklage. Ganz bewusst das Unrecht, die Wut, den Schmerz in Worte fassen und an den Täter, die Täterin richten. Allerdings jetzt noch ganz für mich selbst, bzw. mit einer Begleiterin, einem Begleiter, noch nicht direkt an den Täter. Das kann entlasten. Aber dabei soll ich nicht stehen bleiben, weil ich dadurch auf Dauer Opfer bleibe. Viele klagen aber ein Leben lang (an). Darum ist der nächster Schritt eine große Herausforderung.
Es ist der Schritt der Empathie: das ist der Versuch, sich in den Täter hinein zu versetzen, um zu verstehen, was geschehen ist. Das ist eine Übung mit zwei Stühlen (siehe Bild oben), auf einem sitzt das Opfer, auf dem anderen der (vorgestellte) Täter. Ich als Opfer nehme beide Stühle nacheinander ein, um mich in den Täter hineinzuversetzen. Hier erfolgt dann bei mir ein Perspektivenwechsel. Ich beginne, den Täter zu verstehen, aber verstehen heißt nicht gutheißen oder billigen! Die Schuld und die Verantwortung bleiben beim Täter.
Der vierte Schritt ist der Schritt der Barmherzigkeit. Und damit betreten wir den Raum der Religion oder den HEILIGEN RAUM, wie Stauss es nennt. Nun ist nicht mehr mit den psychologischen Mitteln allein weiter zu kommen. Hier kommt Gott ins Spiel. Jetzt geht es um Liebe, Barmherzigkeit und Vergebung. Das Mittel ist nun, dass ich als Opfer Briefe schreibe. Und zwar schreibe ich einen Brief des Täters an mich, in dem er mir seine Motivation zur Tat erklärt. Wenn ich das tue, gehe ich noch einen Schritt weiter in der Empathie als vorher. Noch weiter führt dann ein von mir als Opfer verfasster Brief des Täters über die Konsequenzen seiner Schuld für ihn als Täter, über die Konsequenzen seines Tuns in der Beziehung dem Opfer, also mir, und Gott gegenüber. Nämlich meist die Störung oder gar Zerstörung der Beziehung. Dann folgt ein letzter von mir als dem Opfer geschriebener Täterbrief an mich, in dem er bereut und um Vergebung bittet.
Wenn ich das nun anzunehmen bereit bin, wenn ich als Opfer zur Vergebung bereit bin, dann schreibe ich ein Vergebungszertifikat, wie Stauss das nennt, darin gebe ich (mir und Gott) schriftlich, dass ich dem Täter verzeihe, ihm vergebe, dass ich Wut und Hass, die immer wieder aufsteigen wollen, nicht mehr nachgehe. Wenn das geschafft ist, dann gehe ich ganz bewusst in einen heiligen Raum, in eine Kirche oder Kapelle oder je nach meiner Religion. Und dort gestalte ich ein Ritual, in dem die Briefe und das Zertifikat nochmals vor Gott lese und im Kreis niederlege, auch in Gegenwart der Begleiterin oder des Begleiters. Und hier bei diesem Ritual entfaltet sich nach den Erfahrungen von Stauss oft eine über das menschliche Maß hinausgehende Kraft und Wandlung. Da ist dann Gottes Geist im Spiel.
An dieser Stelle schließe ich für heute ab. Wer es an einem konkreten Beispiel nachlesen will, findet hier einen Artikel von Konrad Stauss. Über die Versöhnung mit dem Täter schreibe ich zu einem späteren Zeitpunkt. Diese sieben Schritte müssen nicht genauso erfolgen, auch wenn sie sich bewährt haben. Die Themen aber müssen alle bearbeitet werden. Und sie sind hier nur einmal gestreift, um Mut zu machen und auch um einen konkreten Weg vorzustellen, der gegangen werden kann. Und danach fehlt jetzt noch der letzte Schritt, nämlich die Versöhnung mit dem Täter.
Es grüßt Sie herzlich
Thomas Gertler SJ
16. September 2020
Siebenmal jemandem zu vergeben, das ist schon eine große Leistung – so meint jedenfalls Petrus. Jesus aber will mehr, nämlich „siebzigmal siebenmal“, also immer. Und dass wir es können, dazu beten wir im Vaterunser: „Vergib uns unsere Schuld, wie auch vergeben unseren Schuldigern“.

Foto: Balou46 - CC BY-SA 3.0
Innenseite der Eingangstür zur Kirche Sagrada Familia. Das Paternoster auf Katalanisch und in vielen anderen Sprachen.
Matthäus 18,21 - 22
18,21 Da trat Petrus zu ihm [Jesus] und fragte: Herr, wie oft muss ich meinem Bruder vergeben, wenn er gegen mich sündigt? Bis zu siebenmal? 22 Jesus sagte zu ihm: Ich sage dir nicht: Bis zu siebenmal, sondern bis zu siebzigmal siebenmal.