Vor drei Wochen habe ich über „Schritte zur Vergebung“ geschrieben und schon angekündigt, dass ich darüber weiter schreiben werde. Die Schritte zur Vergebung habe ich bei Konrad Stauss gefunden. Er hat ein weiteres Buch geschrieben: „Selbstvergebung durch Schuldkompetenz“. Darin geht es genau darum: Schritte mit meiner Schuld zu gehen, die mir helfen, mir selbst zu vergeben,
den Weg zur Versöhnung zu gehen
und mit meiner Schuld in Würde zu leben.
Ist schon der Weg zur Vergebung nicht einfach und erfordert schwere Arbeit, so trifft das auf die Frage des Umgangs mit eigener Schuld noch mehr zu. Das beginnt schon lange vorher mit der Frage, ob es so etwas wie moralische Schuld überhaupt gibt (also Schuld über das rein Juristische hinaus). Schuld ist nämlich ein sehr voraussetzungsreicher Begriff. Er setzt voraus, dass es Gut und Böse gibt. Dass ich Gut und Böse erkennen kann und dass ich frei handeln kann. Wenn mir die klare Erkenntnis von Gut und Böse oder die Freiheit zum Tun oder Lassen fehlen, dann gibt es auch keine Schuld. Denn Schuld in meinem christlich geprägten Verständnis bedeutet, dass ich mich bewusst gegen das klar erkannte Gute und für das Böse entscheide und so schuldig werde.
Ja, das sagt mir dann mein Gewissen. Und mein Gewissen ist der Ort, wo ich mir meiner Schuld bewusst werde. Wo sie mir auf dem Gewissen liegt und weh tut. Das ist wohl den meisten noch ganz vertraut und das kennen Sie bei sich selbst von Kindesbeinen, liebe Leserin, lieber Leser? Oder? Das schlechte Gewissen. Aber genau da fangen dann schon wieder die nächsten Fragen an. Ist das Gewissen nicht bloß das Verinnerlichte an Werten, die mir meine Eltern, Lehrer, die Gesellschaft beigebracht haben? Ja, daran ist vieles richtig. Das Gewissen ist nicht einfach so direkt die Stimme Gottes in mir, wie es die klassische Lehre früher gesagt hat. Und es gibt auch das irrende Gewissen, also ein Gewissen, das Werten folgt, die ganz falsch sind.
Dennoch gibt es bei den meisten zum Glück das erwachsene und reife Gewissen. Es steht mir als Werte-Instanz im Inneren gegenüber und ich stehe ihm gegenüber. Ich kann das, was mein Gewissen mir sagt, noch einmal anschauen und überprüfen. Sind das nur verinnerlichte Elternbefehle oder sind das wirklich tiefe menschliche Werte, ohne die menschliches Zusammenleben nicht geht: nämlich wahrhaftig zu sein, Verantwortung zu übernehmen, Schuld zu sehen und zuzugeben, einzufühlen, was ich dem anderen angetan habe und zu sühnen, soweit es möglich ist.
Ich bin bei der Vorbereitung dieses Impulses nicht nur auf Konrad Stauss gestoßen, sondern in diesen Tagen des Gedenkens an die deutsche Einheit auch auf Ines Geipel. Sie war zwangsgedopte DDR-Spitzensportlerin und ist heute Schriftstellerin und Professorin für Vers-Kunst. Ihr geht es darum, das Schweigen zu brechen, das in vielen Familien über die Verbrechen in der Nazi- und DDR-Zeit herrscht. Ihre beiden Großväter waren bei der SS. Ihr Vater war als Agent der DDR in Westdeutschland mit acht verschiedenen Identitäten unterwegs. Ganz offen schreibt sie darüber. Das tut weh.
Oft versuchen wir, diesem Schmerz auszuweichen durch Verschweigen und Verleugnen. Auf keinen Fall darf darüber geredet werden, so lautet die unausgesprochene Vereinbarung. Schweigen und Leugnen aber machen krank. Seelisch und auch körperlich. Darum ist der erste Schritt, das Schweigen vor sich selbst und den anderen zu brechen. Der an einem Tumor sterbende Bruder bat seine Schwester Ines Geipel, sie möge „darüber schreiben“. Das hat sie getan. So ist ihr Buch entstanden: „Umkämpfte Zone. Mein Bruder, der Osten und der Hass.“
Dieses Bewusstwerden und Aussprechen von Schuld ist ein erster Schritt. Es ist ein sehr schwerer und schmerzlicher Schritt, aber es ist auch ein erster Schritt zur Befreiung vom unsichtbaren Knebel. Licht darf ins Dunkel dringen. Und alles was in das Licht Gottes gestellt wird, das kann auch heil werden. So sage ich aus dem Glauben und auch aus eigener Erfahrung heraus. Aber es ist nur der erste Schritt. Über weitere Schritte werde ich später noch schreiben.
Es grüßt Sie herzlich
Thomas Gertler SJ
7. Oktober 2020
In der Kirche kennen wir die Institution der Beichte, also das Bekennen von Schuld und Sünde. Es ist ein durch das Beichtgeheimnis geschützter Raum, der hilft, das Unsägliche zu sagen. Aber dass das Verschweigen krank macht, das weiß schon lange vorher der Psalm 32. Der schuldig gewordene David betet ihn. Wir können ihn auch beten.

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Psalm 32, 1-11
32,1 Von David. Ein Weisheitslied. Selig der, dessen Frevel vergeben und dessen Sünde bedeckt ist. 2 Selig der Mensch, dem der HERR die Schuld nicht zur Last legt und in dessen Geist keine Falschheit ist. 3 Solang ich es verschwieg, zerfiel mein Gebein, den ganzen Tag musste ich stöhnen. 4 Denn deine Hand liegt schwer auf mir bei Tag und bei Nacht; meine Lebenskraft war verdorrt wie durch die Glut des Sommers. 5 Da bekannte ich dir meine Sünde und verbarg nicht länger meine Schuld vor dir. Ich sagte: Meine Frevel will ich dem HERRN bekennen. Und du hast die Schuld meiner Sünde vergeben. 6 Darum soll jeder Fromme zu dir beten; solange du dich finden lässt. Fluten hohe Wasser heran, ihn werden sie nicht erreichen. 7 Du bist mein Schutz, du bewahrst mich vor Not und rettest mich und hüllst mich in Jubel. 8 Ich unterweise dich und zeige dir den Weg, den du gehen sollst. Ich will dir raten, über dir wacht mein Auge. 9 Werdet nicht wie Ross und Maultier, die ohne Verstand sind. Mit Zaum und Zügel muss man ihr Ungestüm bändigen, sonst bleiben sie nicht in deiner Nähe. 10 Der Frevler leidet viele Schmerzen, doch wer dem HERRN vertraut, den wird er mit seiner Huld umgeben. 11 Freut euch am HERRN und jauchzt, ihr Gerechten, jubelt alle, ihr Menschen mit redlichem Herzen!