
Foto: Una Laurencic via Pexels
Ich erinnere mich an frühere Ausstellungsbesuche – Paula Modersohn in Bremen, Marc und Macke in Bonn, Picasso in Münster, Brueghel in Paderborn, Beuys in München. War ich erst einmal in die Bilder- und Sinneswelt eingetaucht, verging die Zeit wie im Nu, war ich voller Aufmerksamkeit. Möglichst alles wollte ich in mich aufnehmen und nichts verpassen. „Nie wird ein Auge satt, wenn es beobachtet, nie wird ein Ohr vom Hören voll.“ (Kohelet 1,8)
Ganz anders wird der Besucher im Museum des kürzlich verstorbenen Karikaturisten und Buchautors Tomi Ungerer in Straßburg begrüßt. „Bei Ihrem ersten Rundgang“, so steht es in der Broschüre, „sollten Sie bei den Werken verweilen, die Sie besonders ansprechen. Man kann nicht alles sehen.“
Man kann nicht alles sehen? - Im Gegensatz zu einer Kunstausstellung können wir es uns im Alltag aber meist nicht erlauben, einfach zu verweilen bei dem, was uns besonders anspricht – im Gegenteil. Hier darf nichts übersehen werden, sondern volle Präsenz und Weitblick sind erforderlich. Wo kämen wir sonst hin etwa im Straßenverkehr, während eines chirurgischen Eingriffs, bei der Beaufsichtigung von Kindern oder in einem beruflichen Arbeitsprozess.
Anschauen – nicht nur zur Kenntnis nehmen
Wie wohl tun uns aber zwischendurch Zeiten und Orte, wo wir leistungsfrei verweilen dürfen. Das Wort Weile hat ursprünglich mit dem Wort Wurzel zu tun, in dem Sinne, dass ein Mensch zu seinem Tiefsten und Innersten, zu seinen Quellen gelangen kann. Über das optische Sehen und Zur-Kenntnis-nehmen einer Sache hinaus darf er anschauen, tiefer schauen, das Geschaute wirken und vom Kopf ins Herz sinken lassen.
Aus der ignatianischen Tradition ist uns eine Weise der Bibelbetrachtung überliefert, in der dieses Verweilen im Zentrum steht. Es braucht ein bisschen Übung und jedes Mal auch eine gewisse Zeit (20 oder 30 Min.), um sich hineinnehmen zu lassen in die Dynamik dieser Gebetsweise, deren Schrittfolge Sie auf dem kleinen hier eingefügten Kärtchen sehen:

Foto: Marlies Fricke
Zu den Schritten einer solchen Gebetszeit:
Nach dem Stillwerden folgt ein kurzes (selbst)formuliertes Vorbereitungsgebet, das mit der Zeit wie eine Art Erkennungsmelodie werden kann. Ein Beispiel:
Lebendiger Gott,
mit deinem Wort kommst du mir entgegen.
Öffne meine Ohren und mein Herz,
dass ich unter den vielen Worten, die erklingen,
heute das eine höre,
das mich stärkt,
das mich tröstet,
das mich fordert
und das mich voranbringt
auf dem Weg zu dir.
Das anschließende Aussprechen der (momentanen) persönlichen Sehnsucht vor Gott ist wie ein behutsames Öffnen der Seele. Der Bibeltext, der, zuvor ausgewählt, nun gelesen wird, darf in Ruhe wirken und sich wie ein innerer Film aufbauen. Mit allen Sinnen darf ich hier einsteigen, dabei sein, die Menschen, die Umgebung, die Gegenstände betrachten, die Worte und Geräusche hören, die Atmosphäre „schmecken“ – immer mit der Frage: Wo berührt dieser Bibeltext mein Leben, meine Sehnsucht, meine Freuden, meine Schmerzen? Und in all dem Vielen: dort verweilen, wo ich angesprochen bin, verspüren, verkosten, warten, unter Umständen sogar aushalten.
Die Gebetszeit gipfelt in das Gespräch mit Gott oder Jesus Christus „wie mit einem Freund“ (Ignatius) und kommt mit einem Vaterunser und einem Ritual, z.B. einem Kreuzeichen, zum Abschluss.
Dort verweilen wo ich angesprochen bin, ob begeistert und freudig, ob irritiert oder erschrocken. Manchmal können auch die Stellen, bei denen sich auf den ersten Blick Lange-Weile zeigt, etwas Wichtiges für die Beterin / den Beter bereithalten.
Wie die Seele satt wird
Es geht also nicht um das Viele, das es aufzunehmen gilt - wer mag da nicht die schnellen digitalen Möglichkeiten manchmal beklagen -, sondern es geht um das Wesentliche, um das, was nährt. „Nicht das Vielwissen sättigt und befriedigt die Seele“, so Ignatius von Loyola, „sondern das Verspüren und Verkosten der Dinge von innen her.“ Mit anderen Worten: Nur Mut zur Lücke! Gottes Geist weiß am besten, wohin er den betenden und ehrlich reflektierenden Menschen führen will. Das gilt für eine Bibelbetrachtung genauso wie für das Anschauen eines Ereignisses oder einer Erinnerung im Alltag.
Freuen Sie sich auf Ihre nächsten Verweil-Momente und Verweil-Orte oder schaffen Sie sich welche, allein oder mit anderen. Ich wünsche es Ihnen!
Genauso wünsche ich Ihnen zunächst einmal fröhliche, kurz-weilige Karnevalstage und grüße Sie herzlich
Marlies Fricke (GCL)
27. Februar 2019
Die Speisen und das duftende Öl riechen; die Personen hören: Simon, Jesus, die Frau, die Gäste; die Stadt, das Haus, den Tisch sehen. Einen bild- und handlungsreichen „inneren Film“ bietet zum Beispiel diese Bibelstelle aus dem Evangelium. Es lohnt sich, mit allen Sinnen dabei zu sein, vielleicht sogar selbst einen Platz darin zu finden. - Wo möchten Sie am liebsten verweilen?

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Lukas 7,36-50
Einer der Pharisäer hatte Jesus zum Essen eingeladen. Und er ging in das Haus des Pharisäers und begab sich zu Tisch. 37 Und siehe, eine Frau, die in der Stadt lebte, eine Sünderin, erfuhr, dass er im Haus des Pharisäers zu Tisch war; da kam sie mit einem Alabastergefäß voll wohlriechendem Öl 38 und trat von hinten an ihn heran zu seinen Füßen. Dabei weinte sie und begann mit ihren Tränen seine Füße zu benetzen. Sie trocknete seine Füße mit den Haaren ihres Hauptes, küsste sie und salbte sie mit dem Öl. 39 Als der Pharisäer, der ihn eingeladen hatte, das sah, sagte er zu sich selbst: Wenn dieser wirklich ein Prophet wäre, müsste er wissen, was das für eine Frau ist, die ihn berührt: dass sie eine Sünderin ist. 40 Da antwortete ihm Jesus und sagte: Simon, ich möchte dir etwas sagen. Er erwiderte: Sprich, Meister! 41 Ein Geldverleiher hatte zwei Schuldner; der eine war ihm fünfhundert Denare schuldig, der andere fünfzig. 42 Als sie ihre Schulden nicht bezahlen konnten, schenkte er sie beiden. Wer von ihnen wird ihn nun mehr lieben? 43 Simon antwortete: Ich nehme an, der, dem er mehr geschenkt hat. Jesus sagte zu ihm: Du hast recht geurteilt. 44 Dann wandte er sich der Frau zu und sagte zu Simon: Siehst du diese Frau? Als ich in dein Haus kam, hast du mir kein Wasser für die Füße gegeben; sie aber hat meine Füße mit ihren Tränen benetzt und sie mit ihren Haaren abgetrocknet. 45 Du hast mir keinen Kuss gegeben; sie aber hat, seit ich hier bin, unaufhörlich meine Füße geküsst. 46 Du hast mir nicht das Haupt mit Öl gesalbt; sie aber hat mit Balsam meine Füße gesalbt. 47 Deshalb sage ich dir: Ihr sind ihre vielen Sünden vergeben, weil sie viel geliebt hat. Wem aber nur wenig vergeben wird, der liebt wenig. 48 Dann sagte er zu ihr: Deine Sünden sind dir vergeben. 49 Da begannen die anderen Gäste bei sich selbst zu sagen: Wer ist das, dass er sogar Sünden vergibt? 50 Er aber sagte zu der Frau: Dein Glaube hat dich gerettet. Geh in Frieden!