Die Neigung zur Übertreibung kennt wohl jeder. Meistens ist das ja so, wenn wir etwas erzählen. Beim Gang durch den Wald ist uns ein Wolf begegnet. Na ja, ob es wirklich ein Wolf war? Vielleicht war es auch ein Hund. Aber wenn ich es erzähle, dann habe ich sogar das Gelbe im Auge des Wolfes sehen können. Etwas übertrieben. Es soll ja interessant sein.
Auf dem Bild oben überquert Charles Blondin den Niagara River als Erster auf dem Hochseil im Sommer 1859. Toll, aber vielleicht auch etwas übertrieben. Das Guinness-Buch der Rekorde teilt uns alle die Übertreibungen jedes Jahr mit. Aber wir müssen gar nicht so weit gehen. Es genügt ja bei uns selbst zu bleiben. Wo ist meine Neigung zur Übertreibung?
Damit meine ich jetzt nicht so sehr die Angeberei. Nein, ich meine etwas, das wir vielleicht gut können, bei dem wir aber immer in Gefahr sind, es zu übertreiben. Es gibt zum Beispiel Leute, die sehr gut Ordnung halten können. Aber sie können es auch gut und leicht übertreiben und anderen damit ziemlich auf den Wecker fallen. Meine Gefahr geht eher ins Gegenteil. Ich bin eher etwas großzügig, was mein Zimmer und meinen Schreibtisch betrifft. Und das kann in Stresszeiten bis zum Chaos gehen.
Damit sind wir bei einem Kennzeichen unserer Neigungen. Sie gehen immer weiter bis ins Extrem. Der Ordnungsfanatiker kommt vor lauter Ordnen und Bleistiftspitzen und Räumen zu nichts anderem mehr. Dem Perfektionisten ist am Ende nichts perfekt und vollkommen genug. Ja und ich lande, wie gesagt, im Chaos. Wo ist Ihre Neigung? Wo führt Sie diese Neigung ins Extreme und ins Aus? Wo ist da Ihre Falle?
Wir sind damit wieder bei dem Thema, das uns schon eine Weile begleitet, nämlich beim Thema der Unterscheidung der Geister. Und da ist Ignatius von Loyola, mein Ordensgründer, auch in eine Falle geraten. Er war nämlich ein typisches Kind seiner Zeit. Als stolzer und ehrgeiziger Spanier wollte er es eben besser machen als alle anderen. Vor seiner Bekehrung wollte er gewaltige Taten vollbringen und sich einen großen Namen machen. Nach seiner Bekehrung wollte er in Buße und Gebet noch besser sein als Franziskus und Dominikus und alle anderen Heiligen.
Und mit diesem religiösen Perfektionismus ist er in die Falle getappt. Gerade weil er so gut und perfekt sein wollte, ist er gescheitert. Er wollte es erzwingen und ist fast in den Selbstmord geraten. Darum schreibt er für uns seine Erfahrung auf: „Der Feind [der Geist des Bösen] schaut sehr darauf, ob eine Seele grob oder fein ist. Und wenn sie fein ist, bemüht er sich, sie noch mehr zum Extrem zu verfeinern, um sie mehr zu verwirren und durcheinanderzubringen… Wenn die Seele grob ist, bemüht sich der Feind, sie noch gröber zu machen“ (Exerzitienbuch Nr. 349). Immer ist es das Ziel des Bösen, uns durch die Übertreibung und das Extrem ins Aus und ins Nichts zu führen.
Darum ist die Antwort des guten Geistes darauf, dass er uns wieder in die Mitte, in die Harmonie, in den Frieden führt. Und wenn Sie merken, dass Sie wieder ins Extreme geraten, bitte umkehren und in die Mitte gehen! Und diese Mitte ist nicht die Langeweile einer völligen Ausgewogenheit, sondern das Zentrum, in dem das Feuer der Liebe brennt, in dem Gottes Liebe lodert. Wir schauen nächste Woche noch einmal genauer darauf.
Ich wünsche Ihnen dieses Feuer des Geistes Gottes und grüße Sie herzlich
Thomas Gertler SJ
19. Februar 2020
Für mich kommt dieses Zurückgeführtwerden aus dem Extrem in die heile Mitte durch den Geist Gottes am schönsten in der so genannten Pfingstsequenz zum Ausdruck. Hier hören Sie sie gesungen.

Foto: Andreas Schwarzkopf - CC BY-SA 3.0
Komm herab, o Heil'ger Geist,
der die finstre Nacht zerreißt,
strahle Licht in diese Welt.
Komm, der alle Armen liebt,
komm, der gute Gaben gibt,
komm, der jedes Herz erhellt.
Höchster Tröster in der Zeit,
Gast, der Herz und Sinn erfreut,
köstlich Labsal in der Not.
In der Unrast schenkst du Ruh,
hauchst in Hitze Kühlung zu,
spendest Trost in Leid und Tod.
Komm, o du glückselig Licht,
fülle Herz und Angesicht,
dring bis auf der Seele Grund.
Ohne dein lebendig Wehn
kann im Menschen nichts bestehn,
kann nichts heil sein noch gesund.
Was befleckt ist, wasche rein,
Dürrem gieße Leben ein,
heile du, wo Krankheit quält.
Wärme du, was kalt und hart,
löse, was in sich erstarrt,
lenke, was den Weg verfehlt.
Gib dem Volk, das dir vertraut,
das auf deine Hilfe baut,
deine Gaben zum Geleit.
Lass es in der Zeit bestehn,
deines Heils Vollendung sehn
und der Freuden Ewigkeit. Amen. Halleluja.