Nabelschau

Foto: Ha8890 - CC BY-SA 4.0

Heute lade ich Sie ein zur Nabelschau. Gerade habe ich gelernt, dass der Begriff aus dem alten Griechenland kommt. Dort heißt er „omphaloskepsis“ und ist wie auch heute noch bei uns eher abwertend gemeint. Jemand kreist um sich selbst. Schaut nur auf sich selbst. Hält sich womöglich für den Nabel der Welt. Und dazu lade ich Sie ein? Ja und nein!

Der Begriff stammt übrigens aus einem Streit um die rechte Weise der Meditation. Wir denken heute dabei vor allem an die Meditationsweisen des Buddhismus, an Yoga oder ähnliches. Er stammt aber aus der Auseinandersetzung um das Ruhegebet auf dem Berg Athos, von dem das Jesusgebet kommt. Also aus dem Streit um den Hesychasmus. Die Besinnung auf die Leibesmitte sollte helfen bei der Besinnung auf die Mitte von allem überhaupt. Der Vorwurf der Gegner war: Ihr kreist nur um euch selbst. Und das will dann auch der Begriff Nabelschau auch heute noch sagen.

Ich möchte Sie aber einladen, tatsächlich mal in Ihrer Meditationszeit, wenn Sie ganz für sich sind, das Hemd hochzuziehen und auf Ihren höchstpersönlichen Bauchnabel zu schauen. Als Kind und Heranwachsender habe ich mich ja manchmal mit dem Nabel beschäftigt. Wann aber habe ich ihn zuletzt eines ausführlicheren Blickes gewürdigt? Und da ist der Bauchnabel ja zwar einerseits meine Leibesmitte, aber er ist andererseits auch die zurückgebliebene Narbe von einer Wunde, nämlich der letzte Rest der abgeschnittenen Nabelschnur, die mich einmal neun Monate mit meiner Mutter verbunden hat.

Der Bauchnabel selbst ist also gar nicht Zeichen für mein Ego und meinen Egoismus, für mein auf mich selbst Zurückgebogensein, mein Kreisen um mich selbst, sondern mein Bauchnabel ist recht eigentlich und ganz anders herum die Erinnerung an meine Herkunft. An meine Verbundenheit mit meiner Mutter und mit meinem Vater. Dass ich bin und was ich bin, das verdanke ich ihnen. Das verdanke ich dem Erbgut, wie wir so schön sagen. Und dieses Erbgut besteht nicht nur in der DNA. Es besteht aus dem, was mir meine Eltern und Voreltern vererbt haben. Und da sind ja weniger Gut und Geld wichtig. So sehr oft darum gestritten wird. Die wichtigsten Erbstücke sind nicht immer von hohem materiellem Wert. Es sind Erfahrungen im Miteinander, Haltungen und Einstellungen. Und meist gar nicht die mit erhobenem Zeigefinger weitergegebenen.

Nein, das Wichtigste ist die oft unvermerkte Prägung. Und das ist manchmal wirklich erstaunlich. Mir sagte jetzt eine Mutter: „Weißt du Thomas, auf dem letzten Foto sitzt mein Sohn genauso da, wie mein Vater da zu sitzen pflegte! Das hat mich sehr berührt.“ Ja, solche Körperhaltungen werden oft vererbt von Großeltern zu Enkeln. Wie jemand geht oder die Hand hält. Kennen Sie das das auch in ihrer Familie? Bauchnabel – Erinnerung an die Herkunft und alle die Generationen vor mir.

Und zugleich ist der Bauchnabel die Erinnerung daran, dass ich seit meiner Geburt abgenabelt bin. Ich kann, darf und muss nun selbst leben. Aber dieses Abnabeln ist auch ein langsamer, sehr langsamer Prozess. Beim Menschen spricht man sogar vom „extra-uterinen Frühjahr“, einem Jahr außerhalb des Uterus in größter leib-geistiger Abhängigkeit, bis es zur meiner sozio-kulturellen Geburt kommt. Oft gelingt erst nach dem Auszug von zu Hause oder zuweilen erst nach dem Tod eines Elternteils die Abnabelung. Sie bedeutet aber nicht das Ende der Verbundenheit, sondern ein neues, erwachsenes Stadium dieser Verbundenheit. Oftmals dann erst wirklich in Dankbarkeit und Freiheit.

Je größer heute der Individualismus. die Vereinzelung, der Wille zur Unabhängigkeit und Freiheit in unserer westlichen Gesellschaft wird, umso stärker rückt uns von der anderen Seite die Verbundenheit mit und Abhängigkeit von der Umwelt ins Bewusstsein. Die Welt kann gut ohne mich leben, aber ich nicht ohne Luft, Wasser, Erde, Vögel, Bienen und andere Insekten. Mit den Schimpansen haben wir mehr als 99% unserer DNA gemeinsam.

An all das kann uns unser Bauchnabel erinnern. Er ist eine Betrachtung wert.
Frohe Nabelschau!

Thomas Gertler SJ

16. Juni 2021

In der bildreichen Sprache der Bibel ist gesagt: Wir sind aus Erde – also wirklich Teil dieser Welt, aus ihr gemacht. Und zugleich haben wir doch mehr, als die Welt allein geben kann, nämlich von Gott her als Geschenk den lebenspendenden Geist.

Und noch ein Rätsel: eigentlich dürften weder Adam noch Eva einen Bauchnabel haben. Ich kenne aber kein einziges Bildwerk von Adam und Eva, bei dem der Bauchnabel fehlen würde. Schauen Sie unten auf Adam und Eva von Dürer! Wie kommt das? Hier viele, teilweise lustige Antworten

 

Aus dem zweiten Kapitel des Buches Genesis - Gen 2,4 - 7

2,4 ... Zur Zeit, als Gott, der Herr, Erde und Himmel machte,
5 gab es auf der Erde noch keine Feldsträucher und wuchsen noch keine Feldpflanzen; denn Gott, der Herr, hatte es auf die Erde noch nicht regnen lassen und es gab noch keinen Menschen, der den Ackerboden bestellte;
6 aber Feuchtigkeit stieg aus der Erde auf und tränkte die ganze Fläche des Ackerbodens.
7 Da formte Gott, der Herr, den Menschen aus Erde vom Ackerboden und blies in seine Nase den Lebensatem. So wurde der Mensch zu einem lebendigen Wesen.