„ … mit Zwischenraum, hindurchzuschaun …“

 

Kennen Sie das Gedicht, in dem diese Zeile vorkommt: „…mit Zwischenraum, hindurchzuschaun…“? Ja, genau, es ist von Christian Morgenstern (1871-1914). Er ist nicht sehr alt geworden. Er starb an Tuberkulose. Mit mehreren seiner Gedichte habe ich mich in „update-seele“ schon beschäftigt. Diesmal also:

Der Lattenzaun

Es war einmal ein Lattenzaun,
mit Zwischenraum, hindurchzuschaun.

Ein Architekt, der dieses sah,
stand eines Abends plötzlich da –

und nahm den Zwischenraum heraus
und baute draus ein großes Haus.

Der Zaun indessen stand ganz dumm,
mit Latten ohne was herum,

Ein Anblick gräßlich und gemein.
Drum zog ihn der Senat auch ein.

Der Architekt jedoch entfloh
nach Afri- od- Ameriko.

Christian Morgenstern ist ein humorvoller und ein philosophischer Dichter. Das finde ich sehr anziehend. Oft ahnen wir erst nach einer Weile, was alles in dem Gedicht steckt. Und dieses Gedicht dreht sich eigentlich nicht um den Lattenzaun, sondern um den Zwischenraum. Der Zwischenraum ist ihm so wichtig wie die Latten beim Lattenzaun. Ohne „Zwischenraum, hindurchzuschaun“, ist der Lattenzaun ein erschreckend grässliches Ding, das vom Senat oder vom Staat eingezogen werden muss.

Schwer ist es über den Zwischenraum richtig nachzudenken. Wir schauen meist nur auf die Latten, nicht auf die Zwischenräume. Aber unser Leben geht gar nicht ohne so etwas wie Zwischenräume. Räume, wo mal nichts ist. Denken Sie nur an: Arbeit und Freizeit. Wachen und Schlafen. Wort und Schweigen. Melodie und Pause. Essen und Nichtessen. Latte und Zwischenraum.

Wenn unser Leben gar keine Pausen und Zwischenräume mehr kennt, dann wird es grässlich. Aber die Neigung ist leider heute, alle Zwischenräume enger zu machen. Verdichtung nennt man das bei der Arbeit. Eine Abkürzung, die das auch in unseren Alltag transportiert, lautet AIDS: Alles-Immer-Dauernd-Sofort. Das ist die moderne Krankheit. Kein Zwischenraum, niemals. Schrecken vor dem Nichts, dem Vakuum, der Leere, dem Zwischenraum, hindurchzuschaun. Oder auf Latein: horror vacui. Aber ohne jeden Zwischenraum sehen wir eben nicht mehr durch.

Wie wichtig dieser leere (Zwischen-)Raum ist, das wusste die Philosophie schon sehr, sehr lange. Ich bin der Meinung Morgenstern greift auf seine humorvolle Weise darauf zurück,
nämlich auf folgendes Gedicht von Lao-Tse:

Dreißig Speichen treffen die Nabe,
die Leere dazwischen macht das Rad.

Lehm formt der Töpfer zu Gefäßen,
die Leere darinnen macht das Gefäß.

Fenster und Türen bricht man in Mauern,
die Leere damitten macht die Behausung.

Das Sichtbare bildet die Form eines Werkes,
das Nicht-Sichtbare macht seinen Wert aus.

Und darüber zu meditieren lade ich Sie ein. Speichen in einem Bündel genommen, machen kein Rad. Erst der Zwischenraum. Erst wenn Leere im Krug ist, kann ich ihn füllen. Erst wenn das Haus Raum hat, ist es bewohnbar.

Es grüßt Sie herzlich
Thomas Gertler SJ

7. März 2018

 

Kann man nicht die Tempelreinigung Jesu auch so lesen, dass er wieder einen leeren Tempel haben wollte, damit darin gebetet werden kann? Und was muss ich vielleicht alles aus meinem Inneren hinaustreiben, damit da Gott wohnen und ich wieder beten kann? Lassen wir Jesus den Tempel reinigen, der wir selbst sein sollen.

Rembrandt, Tempelreinigung

 

Joh 2, 14 - 22

2, 13 Das Paschafest der Juden war nahe und Jesus zog nach Jerusalem hinauf. 14 Im Tempel fand er die Verkäufer von Rindern, Schafen und Tauben und die Geldwechsler, die dort saßen. 15 Er machte eine Geißel aus Stricken und trieb sie alle aus dem Tempel hinaus, dazu die Schafe und Rinder; das Geld der Wechsler schüttete er aus und ihre Tische stieß er um. 16 Zu den Taubenhändlern sagte er: Schafft das hier weg, macht das Haus meines Vaters nicht zu einer Markthalle! 17 Seine Jünger erinnerten sich an das Wort der Schrift: Der Eifer für dein Haus verzehrt mich. 18 Da stellten ihn die Juden zur Rede: Welches Zeichen lässt du uns sehen als Beweis, dass du dies tun darfst? 19 Jesus antwortete ihnen: Reißt diesen Tempel nieder, in drei Tagen werde ich ihn wieder aufrichten. 20 Da sagten die Juden: Sechsundvierzig Jahre wurde an diesem Tempel gebaut und du willst ihn in drei Tagen wieder aufrichten? 21 Er aber meinte den Tempel seines Leibes. 22 Als er von den Toten auferstanden war, erinnerten sich seine Jünger, dass er dies gesagt hatte, und sie glaubten der Schrift und dem Wort, das Jesus gesprochen hatte.

 

PS:
Verehrte Leserinnen und Leser, gern möchte ich Sie darauf aufmerksam machen, dass unsere Webseite weitere Fortschritte gemacht hat. Alle Impulse des letzten Jahres sind wieder im Archiv zu finden. Man kann sich inzwischen wieder anmelden, um sich per Email auf dem Glaubensweg begleiten zu lassen. P. Bieger arbeitet an seinen Texten zu verschiedenen Glaubensthemen. Sie sind im Entstehen, brauchen aber noch etwas Zeit. Einen herzlichen Dank an Herrn Florian Hintz, der immer noch weiter an unserer Seite arbeitet.