Mit den Augen der Kinder

Foto: Ernst Vikne - CC BY-SA 2.0

 

Als ich zum ersten Mal gehört habe: „Erfahrung macht dumm!“, dachte ich, welch ein blöder Spruch! Erfahrung macht doch erfahren, also klug und lässt mich besser mit der Welt zurechtkommen. Bis ich dann kapiert habe. Ja, in gewisser Weise macht Erfahrung auch dumm, weil sie in Gefahr ist, alles schon zu wissen und total erfahren zu sein. Da ist die Wahrnehmung dann schon geprägt und weiß schon beim ersten Blick, was es heißt, bedeutet und wie man sich verhalten muss. Solche eingefahrene Erfahrung macht dumm. Ja, das stimmt.

Das Erfrischende und Anregende am Blick der Kinder auf diese Welt liegt darin, dass für sie das Meiste ganz neu und unverbraucht ist. Mit den Augen der Kinder lerne ich auch wieder diesen staunenden Blick. Ich lerne das Wundern und Bewundern und das Wunder neu kennen. Das ist für das Kind selbstverständlich: Wundern und Bewundern und alle die Wunder. Wundern, wie denn die Stimme des verreisten Vaters aus dem kleinen Apparat kommt. Bewundern wie groß und stark er ist und wie er mich hoch in die Luft werfen kann du wieder auffängt. Oder bewundern, wie schön die Mutter Geschichten erzählen und Lieder mit mir singen kann. Und schließlich so viele Wunder auf der Welt wie das eines farbigen Kieselsteines am Meeresstrand oder wie die wunderbar blaue Feder des Eichelhähers, die im Wald zu finden ist.

Solche Wunder lerne ich auch wieder zu sehen, wenn ich mit den Augen der Kinder sehe.

Picasso, das Malergenie des 20. Jahrhunderts, hatte nur einen Wunsch. Wieder malen zu lernen wie ein Kind. Ein Kind kann sich ganz in seinem Bild ausdrücken. Es ist ganz und gar in seinem Bild. Mir tut es auch leid, dass ich verlernt habe, so zu malen. Ja, schlimmer, dass es mir damals in der Schule aberzogen wurde. Denn das Ideal war damals in der DDR der sozialistische Realismus. Das Bild sollte möglichst getreu die Welt abbilden, aber natürlich immer nur die schöne sozialistische Welt der Produktionsarbeit und der Landwirtschaft. Als Maler wie Wolfgang Mattheuer den Sozialismus realistisch malten, also so wie er erfahren wurde, war das auch eine Anklage. Das zeigt das ergreifende Bild „Die Ausgezeichnete“. 

Jesus hat sich seine Kinderaugen bewahrt. Er sieht die Menschen mit solchen liebenden und mitleidenden Augen. Darum liebt er die Kinder und segnet sie. Er versteht die Kinder, weil er selbst so ein Kinderherz hat. Und er fordert uns auf, selbst wieder wie ein Kind zu werden. Wichtig ist dabei, dass Jesus sagt: wir sollen werden wie die Kinder, und nicht Kinder bleiben. Wer einfach ein Kind bleiben will, der wird ein Zwerg. Er bleibt nicht Kind, sondern wird kindisch. Wer wieder wird wie ein Kind, der wird weise. Denn Weisheit ist die (Lebens-)Erfahrung, die nicht dumm gemacht hat und blind. Nein, da ist der Blick des Vertrauens wieder gewonnen. Mit dieser Erfahrung kann man die Lebenserfahrung in solchen Geschichten verdichten, die so wohl tun so viel inneren Frieden stiften wie ein Märchen.

Wer die die Welt wieder mit Kinderaugen sehen will, der soll mal in die Knie gehen und sich einmal auf die Augenhöhe der Kinder begeben. Da sieht die Welt ganz anders aus. Oder befolge den folgenden Rat, den jetzt ein Karnevalist bei einer Sitzung im Fernsehen gab und der mich sehr überrascht hat.

Wenn du die Welt nicht mehr mit den Augen der Kinder sehen kannst, dann nimm dir einen Strick! Nimm dir einen langen und kräftigen Strick und einen Hocker und geh damit in den Wald. Wirf den Strick über einen dicken Ast und dann binde unten den Hocker dran und schaukele mal wieder eine halbe Stunde lang. Dann siehst du die Welt ganz anders!

Ja, lassen Sie sich überraschen. Wenn es geht freudig!

Viele Grüße und weiterhin frohe Fastenzeit
Thomas Gertler SJ

15. März 2017

 

Jeder kennt die Stelle, die Cranach so schön gemalt hat: Lasset die Kinder zu mir kommen. Nicht so bekannt ist, was Jesus an anderer Stelle sagt: „Wer ein solches Kind um meinetwillen aufnimmt, der nimmt mich auf (Mt 18,5).“ Jesus sieht sich selbst als Kind, das aufgenommen wird und sich sehnt, angenommen und aufgenommen zu werden.

 

Mk 10,13 - 16

13 Da brachte man Kinder zu ihm, damit er ihnen die Hände auflegte. Die Jünger aber wiesen die Leute schroff ab. 14 Als Jesus das sah, wurde er unwillig und sagte zu ihnen: Lasst die Kinder zu mir kommen; hindert sie nicht daran! Denn Menschen wie ihnen gehört das Reich Gottes. 15 Amen, das sage ich euch: Wer das Reich Gottes nicht so annimmt, wie ein Kind, der wird nicht hineinkommen. 16 Und er nahm die Kinder in seine Arme; dann legte er ihnen die Hände auf und segnete sie.