„Mein Seufzen ist dir nicht verborgen“ (Ps 38,10)

An der Klagemauer in Jerusalem
Foto: celeumo.Brazil - CC BY 2.0

Die Weltlage macht das Herz schwer. Lehrt Not beten? Anders beten? Kann die Not unsere Lehrmeisterin sein?

Wie gut, dass vielerorts zu öffentlichen Friedensgebeten eingeladen wird, auf Plätzen, in Parks oder Höfen, in Einrichtungen oder Kirchen. Diese Gebete – teils interreligiös - dürfen nicht verstummen! „He’s got the whole world in his hands“, so haben wir letzte Woche gesungen, am Stadtbrunnen versammelt, und es tat gut, es so in Gemeinschaft zu tun.

Doch wie geht Beten zu Hause, allein oder als Familie in solch einer bedrückenden Zeit?

Eine Bekannte hat sich im Baumarkt drei Ziegelsteine gekauft und sie in ihrer Wohnung aufgestellt. „Meine Klagemauer“, sagt sie und steckt nach Jerusalemer Art täglich ein paar Zettelchen in die Löcher und Ritzen: Bitten, Klagen, Sorgen, Ängste, Hoffnungen. „Das Aufschreiben und Abgeben ist Gebet für mich“, sagt sie. “So darf ich alles zum Herrn bringen. Er trägt das ja mit mir zusammen, auch wenn die Frage bleibt und weh tut, wie er all dieses Leid zulassen kann.“

Von einer Familie las ich, dass sie jeden Abend gemeinsam eine Friedenskerze anzünden, ihre persönliche Ukraine-Kerze und ein Gebet sprechen. Täglich sei dabei auch Zeit, auf die Fragen und Ängste der Kinder einzugehen. Gerade für die Kleinsten sei solch ein Licht-Ritual hilfreich.

LICHT LEBEN LIEBE schrieb Kurt Reuber Weihnachten 1942 an den Rand seiner Kohlezeichnung von der berühmten Stalingradmadonna. Auch damals Krieg, Hunger und Dunkelheit; Christus, das Licht der Welt, mitten im Kessel.

Stalingradmadonna - Foto via Wikimedia Commons

Manchmal kann schon ein einfaches Seufzen Gebet sein. In der Bibel kommt das Wort „seufzen“ viele Male vor, besonders in den Psalmen: „Herr, achte auf mein Seufzen!“ heißt es in Psalm 5. Oder wer mit Psalm 6 betet, kann das stellvertretend für eine Mutter mit ihren Kindern in einem Mariupoler Keller tun: „Ich bin erschöpft vom Seufzen, ich überschwemme mein Lager mit Tränen.“

Die Psalmen lassen keine Lebens- und Gefühlslage aus, und jeder Vers, den ein einzelner betet, trifft auf eine Seele irgendwo in der weiten Menschheitsfamilie zu. Psalmenbeten, gerade stellvertretend, weitet. „Nach dem morgendlichen Gang über die Psalmenbrücke drehe ich mich nicht mehr um die eigene Achse. Ich atme die alten Heilworte in meine Tagängste und bin guter Hoffnung.“ (Wilhelm Bruners)

Hier ist eine kleine Auswahl der „alten Heilworte“, die gerade in diesen Wochen das Leiden und Seufzen der Menschen aussprechen helfen: Psalm Nr. 5, 22, 38, 55 und 56, 102, 140 bis 143.

Seufzen ist lebenswichtig, lese ich in einem Psychologie-Artikel. Ein Erwachsener seufzt im Schnitt alle fünf Minuten, indem er ohne aktives Nachdenken besonders tief ein- und ausatmet. Wenn man nicht seufzt, könne die Lunge irgendwann nicht mehr atmen, weil abgelegene Lungenbereiche nicht belüftet werden. Doch seufzen sei mehr als das. Seufzen sei ein Signal an unsere Umwelt, es könne Druck lösen und sei nonverbal beinahe universell in der Kommunikation einsetzbar.

Universell - also ein Seufzer auch als Gespräch mit Gott! „Seufzen ist der Stuhlgang der Seele“, hat einmal scherzhaft ein Wissenschaftler gesagt. Auch Jesus hat geseufzt, zum Beispiel, wenn Menschenmengen ihn umringten und wieder einmal ein Wunder erwarteten (Mk 7,34), oder als die Pharisäer ihn nervten und ein Zeichen von ihm forderten (Mk 8,12). Am Kreuz auf Golgatha sein letzter und wohl tiefster Seufzer: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Mk 15,34)

Auch wir können in der gegenwärtigen Bedrängnis immer wieder bewusst einen Seufzer tun - das gute alte Stoßgebet -, um der Seele Luft zu verschaffen! Nach der Tagesschau oder dem Zeitunglesen ein kurzes Verweilen, ein Händefalten, ein Stoßseufzer: „Ach, Herr, bring doch Hilfe!“ (Ps 118,25) „So nimmt sich der Geist unserer Schwachheit an“, schreibt der Apostel Paulus, „denn wir wissen nicht, was wir in rechter Weise beten sollen; der Geist selber tritt jedoch für uns ein mit unaussprechlichen Seufzern.“ (Röm 8,26)

Ein „unaussprechliches“ Gebet, das allein „atmend“ in Gottes gütigen Blick mündet, hat uns Kurt Marti hinterlassen:

Du,
da du alles schon weißt,
mag ich nicht beten.
Tief atme ich ein,
lang atme ich aus
und siehe:
du lächelst.

Darauf dürfen wir hoffen: dass am Ende der Fastenzeit alles Leben vom Seufzen zum österlichen Jauchzen gelangen darf, dass am Ende nicht das Grauen steht, sondern Licht, Leben und Liebe. Dass der allerletzte Vers des Psalmenbuches Recht behält: „Alles, was atmet, lobe den Herrn!“

Aber noch ist bittere Fasten- und Passionszeit, nicht nur im kirchenkalendarischen Sinn. - Ich wünsche Ihnen für die kommende Zeit ein mutiges Herz! Und vergessen wir trotz allem auch die Freude und das Schöne und die guten Kräfte in der Welt nicht!

Marlies Fricke (GCL)

30. März 2022

Wussten Sie, dass Europa sechs Schutzpatroninnen und -patrone hat?  Zwei Mönche, eine Philosophin, einen Bischof, eine weltgewandte Mystikerin und eine Mutter können wir nach lebendiger katholischer Tradition anrufen und sie um Schutz und Fürsprache bei Gott bitten. Nutzen wir dieses Sextett! Die Jüngste von ihnen, Edith Stein, hat in dunkler Zeit ein beeindruckendes Testament hinterlassen.

Die Patrone Europas (v.l.n.r.): Benedikt von Nursia, Katharina von Siena, Bischof Methodius, Birgitta von Schweden, Kyrill, Teresia Benedicta vom Kreuz (Edith Stein)
Foto: Jobas - CC BY-SA 3.0

„Schon jetzt nehme ich den Tod, den Gott mir zugedacht hat, in vollkommener Unterwerfung unter seinen heiligsten Willen mit Freuden entgegen. Ich bitte den Herrn, daß er mein Leben und Sterben annehmen möchte zu seiner Ehre und Verherrlichung, für alle Anliegen … der Kirche, … und damit der Herr von den Seinen aufgenommen werde und sein Reich komme in Herrlichkeit, für die Rettung Deutschlands und den Frieden der Welt, schließlich für meine Angehörigen, Lebende und Tote und alle, die mir Gott gegeben hat: daß keines von ihnen verlorengehe.“

Aus dem Testament Edith Steins (deutsche Philosophin jüd. Herkunft, ermordet 1942 im KZ Auschwitz-Birkenau)