
Foto: Zyance - CC BY-SA 2.5
Ich erinnere mich an den Titel einer Tagung: „Alles außer gewöhnlich!“. Witzig und schön mehrdeutig. Und doch rief er in mir auch einen Widerstand hervor. Denn gewöhnlich sind wir gewöhnlich. Oder anders: Der Durchschnitt ist Durchschnitt. Und er darf es auch sein. Ja, noch genauer. Es geht gar nicht anders. Denn wir sind meistens gewöhnlich. Wir sind alltäglich. Wir sind durchschnittlich, jedenfalls oft und meist, eher selten ragen wir heraus.
Das ist nicht so leicht zu akzeptieren, denn es ist ein ungeschriebenes Gesetz unserer modernen westlichen Gesellschaft, dass ich alles sein darf außer gewöhnlich. Ich soll außergewöhnlich sein. Ich muss besonders sein. Ich muss herausstechen. Spüren auch Sie diesen Druck, besonders und außergewöhnlich zu sein? Das führt dazu, dass man blenden und so tun muss, als wäre man es. Es führt zur Verlogenheit und zur Verbogenheit. Wir verbiegen uns, um so außergewöhnlich und besonders zu erscheinen. Der Hochleistungsdruck führt zur Krankheit unserer Zeit, zum Burnout.
Freilich ist es wahr und richtig, dass ein jeder Mensch einmalig und besonders ist. Ja, jeder von uns hat seinen einmaligen Fingerabdruck. Jeder seinen unverwechselbaren Gang. Jeder eine ganz individuelle Stimme. Man erkennt mich sofort, wenn ich am Telefon sage: Hallo, ich bin‘s. Ja, aber dieser einmalige und auch wunderbare und liebenswerte Mensch bin ich auf eine ganz alltägliche Weise. Ich habe meine eigene Form, wie ich mich morgens aus dem Bett quäle - oder ganz anders - fröhlich, erwartungsvoll und gern aufstehe. Was ich brauche zum Frühstück. Oder wie mein Schreibtisch aussieht. Wie ich mich gewöhnlich kleide. Und ob ich gewohnt bin, Tee oder Kaffee zu trinken. Ein ganz persönlicher und zugleich gewöhnlicher Alltag.
Ein Alltag, der seine täglichen Kämpfe kennt. Meistens erstmal mit mir selbst. Aufstehen und Schlafen gehen. Essen und Trinken. Zu wenig oder immer ein bisschen zu viel davon. WhatsApp jetzt gleich einschalten oder erstmal Ruhe halten? Das Gespräch über das schwierige Thema führen oder lieber aufschieben. Ja, da können Sie nun Ihre ganz persönlichen täglichen Kämpfe einfügen. Mit dem Mann, mit der Frau, mit den Kindern, mit der Technik. Womit ringe ich jeden lieben Tag und wo bin es so leid, muss es aber alltäglich?
Und das alles hat eben gar nichts Großartiges, Heldenhaftes und Außergewöhnliches. Und doch hat es das auch. Wie es in einem schönen kleinen Gedicht heißt: „Zwar ist das nichts Besunderes. Ich aber – ich bewunder es.“ (Erich Mühsam)
Wir sind einmalig und besonders aber eben auf alltägliche und gewöhnliche Weise.
Ein anderer Aspekt: Gerade war die Weltmeisterschaft in Doha. Manche haushohe Favoriten haben keine Medaille bekommen. Andere waren ganz unbekannt und sind nun weltberühmt auf dem Treppchen ganz oben, auf dem Gipfel. Aber für jeden und jede, die da auf dem Treppchen stehen gilt, dass das Treppchen nicht nur drei Stufen hat, sondern sich als Pyramide ganz weit nach unten fortsetzt. Damit eine Goldmedaille vergeben werden kann, müssen Hunderte und Tausende üben. Jeder Gipfel hat jede Menge Berg unter sich. Ohne den gewöhnlichen Berg darunter kein Gipfel.
Das gilt nicht nur für den Sport. Das gilt auch für unser eigenes Leben. Damit es in meinem Leben Höhepunkte, Gipfelpunkte geben kann, braucht es jede Menge Alltag darunter. Der trägt die Höhepunkte. Ich kann gar nicht ständig auf dem Höhepunkt leben. Ich muss auch wieder runter vom Berg. Wie die Jünger vom Berg Tabor, wo sie die einzigartige Verklärung Jesu erlebt haben (Lk 9,28-36).
Ja, und wo wir jetzt endlich bei Jesus angekommen sind. Bei ihm haben die drei Jahre des öffentlichen Wirkens dreißig Jahre der Verborgenheit als Alltagsleben in aller Gewöhnlichkeit und Unauffälligkeit unter sich liegen. Auch Jesus war da nicht anders als wir. Ja, selbst von den drei Jahren des öffentlichen Lebens war die Mehrzahl der Tage auch ganz alltäglich. Wandern mit den Jüngern und mit den Jüngerinnen durchs staubige Israel, durch Juda, am See Genezareth entlang. Abends Quartier in einem Dorf oder einer kleinen Stadt. Und auch er war müde, traurig, schwach, fühlte sich verschwitzt, hungrig und durstig. Aß gern in Gesellschaft und trank gern guten Wein. Freute sich an den ganz gewöhnlichen Dingen. An Vögeln und Lilien, Kindern und Frauen, an Musik und Liedern.
Und dieses Banale, Gewöhnliche, Alltägliche hat Gott erwählt, selbst darin zu leben und zu wohnen. Ich kann nicht immer und jeden Tag auf dem Gipfel meines Lebens, Schaffens und Wachseins und meiner Kreativität und Sensibilität sein. Ich muss es auch nicht! Darum fordern Sie es auch nicht von sich und anderen! Wie oft bin ich langsam, oder mal verschnupft im doppelten Sinne des Wortes, bin vergesslich, faul und sitze einfach nur da, wie es Loriot so lustig geschildert hat. Und das alles darf auch sein und gehört dazu. Ist alltäglich, ist gewöhnlich, aber das bin eben auch einmalig Ich. Es ist mein einmaliges Dasein. Und so auch Jesus. Er hat es gewählt und gewollt und es gehört damit auch ins Göttliche… Und alles Alltägliche bei mir ragt auch hinein ins Geheimnis des Göttlichen.
Das ist doch auch tröstlich und hilft mir, im Gewöhnlichen zu wohnen.
Es grüßt Sie herzlich
Thomas Gertler SJ
16. Oktober 2019
Paulus geht über das hinaus, was ich geschrieben habe über das Gewöhnliche. Für ihn hat Gott das Schwache, Kleine, Törichte, Armselige erwählt, gerade um unserem Drang nach dem Außergewöhnlichen, Großen, Mächtigen und Gewaltigen entgegenzutreten. Und die ersten Christen gehörten auch eher zur Unterschicht. Da waren Sklaven und Frauen zahlreich in den Gemeinden, weil sie dort etwas galten und gleichberechtigt waren.

Foto: Bundesarchiv, B 145 Bild-F079057-0010 - CC-BY-SA 3.0
1 Korinther 1,25 - 31
25 Denn das Törichte an Gott ist weiser als die Menschen und das Schwache an Gott ist stärker als die Menschen. 26 Seht doch auf eure Berufung, Brüder und Schwestern! Da sind nicht viele Weise im irdischen Sinn, nicht viele Mächtige, nicht viele Vornehme, 27 sondern das Törichte in der Welt hat Gott erwählt, um die Weisen zuschanden zu machen, und das Schwache in der Welt hat Gott erwählt, um das Starke zuschanden zu machen.
28 Und das Niedrige in der Welt und das Verachtete hat Gott erwählt: das, was nichts ist, um das, was etwas ist, zu vernichten, 29 damit kein Mensch sich rühmen kann vor Gott.
30 Von ihm her seid ihr in Christus Jesus, den Gott für uns zur Weisheit gemacht hat, zur Gerechtigkeit, Heiligung und Erlösung. 31 Wer sich also rühmen will, der rühme sich des Herrn; so heißt es schon in der Schrift.