Lob auf die Dunkelheit

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Ob wir das erste Adventslicht in diesem Jahr bewusster wahrnehmen? Unsere Innenstädte sind dunkler geworden, Schaufenster nur mäßig beleuchtet, Straßenlaternen herabgedimmt, Kirchen und öffentliche Gebäude seltener angestrahlt, in der Wohnung wird manche Lampe weniger angeknipst. Energiesparen ist angesagt. Wie wohl tut da das Leuchten der ersten Adventskerze! „Das Volk, das in der Finsternis ging, sah ein helles Licht“ (Jesaja 9,1).

Vielleicht staunt manche/r während des Stromsparens neu über den Sternenhimmel, der sonst durch die „Lichtverschmutzung“ mancherorts kaum zu sehen ist. Übertriebenes künstliches Licht kann auch den natürlichen Tag-Nacht-Rhythmus, den Wechsel von Produktivität und Regeneration, für Mensch und Tier ziemlich durcheinanderbringen.

Alles, was lebt, braucht Licht, aber zur gemäßen Zeit braucht es auch die Dunkelheit.

Dunkelheit kann lebensnotwendig sein, dort, wo sie für Erholung, Ruhe, Intimität und Schutz sorgt. Dunkelheit lässt keimen und wurzeln, wie bei den Blumenzwiebeln, die in diesen Tagen in die Erde gesteckt werden. Jedes Menschenkind kommt, wenn die Zeit reif ist, aus dem Dunkel der Gebärmutter in das Licht der Welt. Und - wer wollte es bestreiten - jeder Mensch braucht ausreichende Nachtruhe, um für den neuen Tag gerüstet zu sein und überhaupt an Leib und Geist gesund zu bleiben.

„Wer sehen will, muss die Augen schließen.“ -

So hat der Maler Paul Gaugin einmal gesagt und dabei wohl weniger auf Schlaf und Traum angespielt. Wie oft schließen wir unbewusst die Augen, wenn wir eine Sache intensiver wahrnehmen wollen: eine Speise oder eine Lieblingsmusik, einen Duft, einen Gedanken oder einfach nur die Sonne im Gesicht, manchmal auch einen Schmerz. Dann schließen wir die Lider, um besser nach innen spüren und horchen zu können: Was fühle ich? Was regt sich in mir? Was berührt mich? Wovon träume ich? - Nicht die Augen vor der Welt zu verschließen, ist gemeint, aber die Augen mitten in der Welt zu schließen, um für kurze Zeit mehr bei sich zu sein, in der eigenen Seelenkammer.

Als Jugendliche hatte ich zu Hause eine Dunkelkammer - eher ein Provisorium im Bad -, wo ich mit Begeisterung meine selbstfotografierten Schwarzweißbilder entwickelte, auch wenn es bei Tageslicht gar nicht leicht war, die Jalousienritzen richtig abzudichten. Nicht ohne Stolz erinnere ich mich an diese bescheidene Kammer: Wie sich dort aus jedem einzelnen Negativ ein Bild entwickelte. Nicht ich entwickelte das Bild, sondern es entwickelte sich. Zwar konnte ich geringen Einfluss nehmen z.B. durch die Belichtung und Papiersorte, aber was am Ende auf der Trockenleine hing und sich bei Licht zeigte, lag nicht in meiner Hand. –

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So ist es auch mit unserer Seele. „Geh in deine Kammer und schließ die Tür zu“ (Matthäus 6,6). Hier, in der Verborgenheit und persönlichen Beziehung zu Gott, dürfen wir unseren Film vertrauensvoll vor Ihm belichten: das Erlebte und Erlittene, unsere Gefühle und Gedanken, Bitte, Dank, Klage, unsere Ohnmacht und Ungeduld, auch unsere Schuld. Was sich daraus „entwickelt“, liegt nicht in unserer Hand – oft genug ist es zunächst ein Warten und Tasten, dann vielleicht eine Einsicht, ein Trost, eine neue Klarheit oder Freude. Wir dürfen Empfangende sein, oft auch Überraschte. „Euer Vater weiß, was ihr braucht, noch ehe ihr ihn bittet.“ (6,8) Auf jeden Fall aber entwickelt sich aus einem Negativ immer ein Positiv!

 

Alles Leben braucht auch die Dunkelheit. Und geschlossene Augen sehen manchmal mehr.

Gott weiß, was wir brauchen und was in uns keimen, sich wandeln oder heranreifen will - für uns selbst und für andere.

Vielleicht lassen uns die erzwungenen Dunkelheiten dieses Winters das wachsende Licht des Advents neu sehen. Gerade in die Finsternisse unserer kleinen und großen Welt hinein will der Retter ja kommen. „Fürchtet euch nicht“, so steht es hundertfach in der Bibel. - Vertrauen wir Ihm?

Ich wünsche allen von Herzen eine gesegnete und vertrauensvolle Adventszeit!
Marlies Fricke (GCL)

30. November 2022

Für den Psalmisten schließt die Beziehung zu Gott jede Finsternis aus, weil Gott stärker ist als alle Finsternis. Und doch braucht selbst der Schöpfergott die Dunkelheit der Natur, um Leben zu schaffen.

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Psalm 139,11-16

Würde ich sagen: Finsternis soll mich verschlingen
und das Licht um mich soll Nacht sein!
Auch die Finsternis ist nicht finster vor dir,
die Nacht leuchtet wie der Tag,
wie das Licht wird die Finsternis.
Du selbst hast mein Inneres geschaffen,
hast mich gewoben im Schoß meiner Mutter.
Ich danke dir, dass ich so staunenswert und wunderbar gestaltet bin.
Ich weiß genau: Wunderbar sind deine Werke.
Dir waren meine Glieder nicht verborgen,
als ich gemacht wurde im Verborgenen,
gewirkt in den Tiefen der Erde.
Als ich noch gestaltlos war,
sahen mich bereits deine Augen.
In deinem Buch sind sie alle verzeichnet: die Tage,
die schon geformt waren,
als noch keiner von ihnen da war.