Leih mir dein Ohr!

In Hamburg-Eimsbüttel gibt es ein Ohrenleihhaus, und zwar in der U-Bahn-Station Emilienstraße. Das ist ganz zufällig entstanden im Jahr 2017. Der Drehbuchautor Christoph Busch war auf der Suche nach Geschichten aus dem wirklich wahren Leben. In der U-Bahn-Station war ein Kiosk aufgegeben worden und hat leer gestanden. Er hat ihn angemietet und dort sein Ohr verliehen: „Eine Geschichte oder einen Satz, Erlebnisse oder Wünsche, Glück oder Unglück – kostenlos und unabhängig.“ (Frank Heike, Der Zuhörer, FAZ, 19.05.23, S. 8).

Es war sehr überraschend, wie viele Menschen kamen und einfach erzählten. Busch war ganz fasziniert und hörte täglich von Montag bis Freitag sechs Stunden. Er erfuhr, was sein Namensvetter Wilhelm Busch schon gedichtet hatte:

Das Reden tut dem Menschen gut
Am meisten, wenn er‘s selber tut

Auf die Dauer war es für ihn gar nicht leistbar. Inzwischen hat er einen Verein gegründet: „Zuhör Kiosk“. Da sind jetzt viele offene Ohren. Und es hat sich noch verbreitet über ganz Deutschland hin. Es gibt auch "Zuhörbänke".

Vor unserer Kirche in Göttingen hatten wir eine solche mehrere Wochen lang stehen.

Wieso wurde dieses Angebot so überraschend stark angenommen? Erster Grund: es war das Ohr eines Mitmenschen, gerade nicht einer Therapeutin oder eines Pfarrers. Es war also gewissermaßen auf Ohrenhöhe und ohne jeden moralischen oder sonst einen Anspruch. Einfach nur erzählen. Und das ganz einfache Erzählen befreit und erleichtert. Es befreit, weil sich durch das Reden die oft undurchschaubaren und verknoteten Bande in meinem Leben lockern. Sie lösen sich nicht sofort, aber sie lockern sich. Das Sprechen selbst schafft Abstand und lockert, so dass auch ein Lösen der Knoten vorstellbar wird.

Es erleichtert, weil ich Lasten weitergeben und abgeben kann. Schon das einfache Äußern lässt die ganze Last leichter werden, weil sie nach Außen gegeben wird, weil sie mitgeteilt und dadurch auch geteilt wird. Sie bleibt nicht nur in mir und bei mir. Sie verlässt mich. Das erleichtert. Ich bin es erst einmal los. Freilich nicht völlig. Nein, das nicht. Aber wenn es nun draußen ist, dann ist es auch leichter zu verstehen, zu entwirren, zu ordnen und in Ordnung zu bringen. Und dazu muss mein Gegenüber, das geliehene Ohr gar nichts sagen. Durch das Aussprechen selbst klärt sich vieles beim Aussprechenden.

Der zweite Grund im Zuhör-Kiosk: Das Wichtige beim geliehenen Ohr ist, dass das Ohr dem anderen wirklich gegeben wird, ausgeliehen wird, also wirklich ein hörendes Ohr ist, ein offenes Ohr ist, kein neugieriges, kein gieriges, sondern ein liebevolles, verständnisvolles Ohr ist. Es muss aber ein Gegenüber sein und bleiben. Das Wichtige ist, dass es nicht dem Inneren des Erzählenden gleicht, wo der/die Erzählende ja das Problem, den Konflikt, das schlimme Gefühl schon lange rumträgt, und eben keinen Abstand bekommt. Das Ohr des Gegenübers aber schafft diesen Abstand und damit Erleichterung und Befreiung.

Noch etwas Hilfreiches Drittes bei dem Zuhör-Kiosk: Wir sind eben nicht verwandt und verschwägert. Ich kenne meinen Zuhörer gar nicht weiter. Sich dem anderen als Fremden anzuvertrauen, den ich nie mehr wiedersehen muss, ist leichter, weil ich nicht Angst haben muss, eingeordnet oder beurteilt zu werden. Das passiert vielleicht, aber es hat für mein eigenes Leben keine Folgen. Das macht mich freier und ehrlicher in meinem Erzählen. Ich muss nicht darauf achten, ein gutes und sympathisches Bild abzugeben. Ich muss niemals wiederkommen. Ich kann aber zurückkommen, wenn ich will.

Hier können Sie die Erfahrungen von Christoph Busch selbst hören.

Ich wünsche Ihnen, dass Sie selbst so ein Ohr kennen, dem Sie alles anvertrauen können und ich wünsche Ihnen, dass Sie selbst so ein offenes Ohr für andere haben. Das ist so eine große Hilfe.

Es grüßt Sie herzlich
Thomas Gertler SJ

24. Mai 2023

Die wichtigste Stelle darüber, dass Gott das Schreien der Menschen in Not hört, steht in der Selbstoffenbarung Gottes im Buch Exoduus (Ex 3). Aus dieser Erfahrung wächst auch das Gebet in Ps 94. Dieser Psalm könnte von jemandem geschrieben sein, der den Krieg in der Ukraine miterlebt. Gott sieht und hört und er steht auf der Seite der Unterdrückten. Er ist für sie Zuflucht und Burg.

Foto: Marek Kvackaj - CC BY-SA 3.0

Psalm 94,1 - 21

94,1 Gott der Vergeltung, HERR, du Gott der Vergeltung, erscheine! 2 Erhebe dich, Richter der Erde, vergilt den Stolzen ihr Tun! 3 Wie lange noch dürfen die Frevler, HERR, wie lange noch dürfen die Frevler frohlocken? 4 Sie geifern und führen freche Reden, die Übeltäter brüsten sich alle. 5 HERR, sie zertreten dein Volk, sie unterdrücken dein Erbteil. 6 Sie bringen die Witwen und Fremden um und morden die Waisen. 7 Sie sagten: Der HERR sieht es nicht, der Gott Jakobs merkt es nicht. 8 Begreift doch, ihr Toren im Volk! Ihr Unvernünftigen, wann werdet ihr klug? 9 Sollte der nicht hören, der das Ohr gepflanzt hat, sollte der nicht sehen, der das Auge geformt hat? 10 Sollte der nicht zurechtweisen, der die Nationen erzieht, er, der die Menschen Erkenntnis lehrt? 11 Der HERR kennt die Gedanken der Menschen: Sie sind ein Windhauch. 12 Selig der Mann, den du, HERR, erziehst, den du mit deiner Weisung belehrst, 13 um ihm Ruhe zu schaffen vor bösen Tagen, bis dem Frevler die Grube gegraben ist. 14 Denn der HERR lässt sein Volk nicht im Stich und wird sein Erbe nicht verlassen. 15 Nun spricht man wieder Recht nach Gerechtigkeit; ihr folgen alle Menschen mit redlichem Herzen. 16 Wer wird sich für mich gegen die Bösen erheben, wer tritt gegen die Übeltäter für mich ein? 17 Wäre nicht der HERR meine Hilfe, bald würde meine Seele wohnen im Schweigen. 18 Wenn ich sage: Mein Fuß gleitet aus, dann stützt mich, HERR, deine Huld. 19 Mehren sich die Sorgen in meinem Innern, so erquicken deine Tröstungen meine Seele. 20 Hat sich mit dir der Thron des Verderbens verbündet, der Mühsal schafft, gegen das Gesetz? 21 Sie rotten sich zusammen gegen das Leben des Gerechten, unschuldiges Blut sprechen sie schuldig. 22 Da wurde mir der HERR zur Schutzburg, mein Gott zum Fels meiner Zuflucht.