
Hugo van der Goes, Portinari-Altar (Ausschnitt), um 1475.
„Warum haben die denn keine Smartphones?“, fragt die vierjährige Emma, als wir uns zusammen das Weihnachtsbild von Hugo van der Goes anschauen und oben rechts bei den Hirten ankommen. Die Kleine ist aufmerksam geworden auf die Gestik der drei Männer: der eine mit geöffneten Armen, der zweite staunend mit offenem Mund, der dritte mit betenden Händen. Ja, ich gebe Emma Recht, heute würden die drei wohl sofort ihr Handy zücken, um die außergewöhnliche Szene festzuhalten: ein neugeborenes Kind in einem Stall.

Hugo van der Goes (1435/40 – 1482), Portinari-Altar, Florenz.
Aber die Herbeigeeilten können „nur“ mit ihren eigenen Augen das Geschehen anschauen. Staunend, anbetend, empfangend nehmen sie mit Hilfe ihrer Sinne und Gefühle die Gegenwart des göttlichen Kindes in sich auf. Es scheint, als könnten sie sich kaum sattsehen. Leibhaftig prägt sich ihnen das Ereignis ein, ihnen, den Schauenden ad personam - nicht einem Speicherchip.
Können wir heute noch so schauen wie die Hirten? Schauen ist mehr als Sehen. Es geht tiefer, bis zu einem inneren und geistigen Sehen und Betrachten. Können wir noch so gegenwärtig sein im Hier und Jetzt, ein Geschehen so in Ruhe auf uns wirken lassen? Können wir ein Bild noch absichtslos wahrnehmen, bevor unsere Augen hinter dem Display oder dem Sucher verschwinden? Neulich stieß ich im Handelsblatt auf eine Grafik zur Menge der Fotografien, die wir uns nach dem Schießen später noch einmal ansehen. Vor Beginn der Digitalisierung, so zeigt es die Grafik, wurden nahezu 100 % der geschossenen Fotos später wieder angeschaut; heute sind es nur noch 3 %. – Können wir noch wirklich schauen? Oder jagen wir nur schnell und oberflächlich nach Motiven?
„Was wir im Auge haben, das prägt uns, dahinein werden wir verwandelt“, so Heinrich Spaemann. Was haben wir denn im Auge? Wohin geht unser Blick? Worauf schauen wir? Mitten in der vierten Corona-Welle mit all den persönlichen und gesellschaftlichen Unsicherheiten und Ängsten feiern wir das Fest der Geburt Christi. Schauen wir doch zusammen mit den Hirten auf IHN, den Erlöser, den Immanuel, den Gott-mit-uns! Und vertrauen wir: Nicht nur in Betlehem will Jesus geboren werden, sondern mitten unter uns und in uns! Mitten in unserer Unsicherheit, im Glück und Leid unseres Alltags, will Gott Mensch werden. Unsere hungrige Seele darf seine Krippe sein! Unser Leben, so wie es gerade ist, sein Stall!
„Komm, Jesus, komm | spring in mein Leben … | werde Mensch | in mir“ (H.D. Stäps in: Magnificat), so dürfen wir beten und unsere Sehnsucht vor Gott aussprechen.
Wer so schaut und (an)betet wie die Hirten, lässt sich prägen und verändern vom Licht der Weihnacht. Wer so schaut und betet, wird die Nöte der Menschen und der Welt nicht ausblenden, sondern sich rufen und senden lassen, um Gottes Güte und Frieden überallhin zu tragen. „Die Hirten … rühmten Gott und priesen ihn für alles, was sie gehört und gesehen hatten.“ Ihr Herz war so voll von Freude, dass ihr Mund, ihr Leben, davon überfloss!
Wenn wir in diesen Tagen die Krippe in unserer Wohnung aufstellen oder sie in einer Kirche besuchen, ist das eine gute Gelegenheit für einen weihnachtlichen Sehtest. Wer wünscht sich denn beim Anblick des Kindes nicht zuinnerst einen ruhigen Platz zum Verweilen, wer möchte sich nicht „in seine Lieb versenken“, um so immer mehr vom Sehen zum Schauen zu kommen?
„Wir kommen, wohin wir schauen“, so noch einmal Spaemann, ja, wir kommen in der Armut des Stalls zu IHM, Jesus Christus. In IHN hinein dürfen wir uns verwandeln lassen, wenn wir jetzt wieder seine Menschwerdung feiern - und immer dann, wenn Er uns in den Sakramenten begegnet. Gott wird Mensch, und „jeder Mensch ist ein werdender Christus“ (Christian de Chergé). Schauen wir auf Ihn und Seinen Reichtum der Liebe!
Schon seit Wochen wird es in den Chören eingeübt, mein Lieblingsweihnachtslied „Ich steh an deiner Krippe hier“. Dazu möchte ich Ihnen einen kleinen Film empfehlen und in diesem Sinn ein lichtvolles und fröhliches Weihnachtsfest wünschen. Mögen Sie das im Auge behalten, was Ihnen Freude und Kraft schenkt. Und schöne Erinnerungsfotos wünsche ich Ihnen auch!
Herzlich grüßt Sie
Marlies Fricke (GCL)
22. Dezember 2021
Aus Ihrer Nachtwache, aus Einsamkeit und Dunkelheit, wurden die Hirten herausgerufen als erste Zeugen der Geburt Christi. Ihre Furcht wandelte sich in Vertrauen und Jubel:

Foto: Jürgen Köhn - In: Pfarrbriefservice.de
Lukas-Evangelium 2, 8-20
8 In dieser Gegend lagerten Hirten auf freiem Feld und hielten Nachtwache bei ihrer Herde. 9 Da trat ein Engel des Herrn zu ihnen und die Herrlichkeit des Herrn umstrahlte sie und sie fürchteten sich sehr. 10 Der Engel sagte zu ihnen: Fürchtet euch nicht, denn siehe, ich verkünde euch eine große Freude, die dem ganzen Volk zuteilwerden soll: 11 Heute ist euch in der Stadt Davids der Retter geboren; er ist der Christus, der Herr. 12 Und das soll euch als Zeichen dienen: Ihr werdet ein Kind finden, das, in Windeln gewickelt, in einer Krippe liegt. 13 Und plötzlich war bei dem Engel ein großes himmlisches Heer, das Gott lobte und sprach: 14 Ehre sei Gott in der Höhe / und Friede auf Erden / den Menschen seines Wohlgefallens. 15 Und es geschah, als die Engel von ihnen in den Himmel zurückgekehrt waren, sagten die Hirten zueinander: Lasst uns nach Betlehem gehen, um das Ereignis zu sehen, das uns der Herr kundgetan hat! 16 So eilten sie hin und fanden Maria und Josef und das Kind, das in der Krippe lag. 17 Als sie es sahen, erzählten sie von dem Wort, das ihnen über dieses Kind gesagt worden war. 18 Und alle, die es hörten, staunten über das, was ihnen von den Hirten erzählt wurde. 19 Maria aber bewahrte alle diese Worte und erwog sie in ihrem Herzen. 20 Die Hirten kehrten zurück, rühmten Gott und priesen ihn für alles, was sie gehört und gesehen hatten, so wie es ihnen gesagt worden war.