
Foto: Uli Kirchhoff
Immer mal wieder kommt es vor, dass wir Klärungsbedarf haben. Ein Mitarbeiter hat sich nicht so verhalten, wie wir es erwarten und für angemessen erachten. So bitten wir um ein Gespräch.
Meist ist so ein Gespräch nicht einfach, da die Situation gefühlsbelastet ist und es mitunter für alle Beteiligten um Anerkennung und Wertschätzung geht. Und wenn wir uns dann noch selbstbehauptend und siegesgewiss der Situation stellen, ist das Gespräch nicht mehr hilfreich und klärend, sondern verhärtet.
Diese Situation erinnert mich auch an eine Begegnung Jesu mit einem Pharisäer (Mt 22,34-40), bei der die Ausgangs- und Machtfrage geklärt schien, die aber möglicherweise – das Evangelium schweigt sich darüber aus - eine überraschende Klärung ermöglichte und die gegenseitige Wahrnehmung veränderte.
„Als die Pharisäer hörten, dass Jesus die Sadduzäer zum Schweigen gebracht hatte, kamen sie am selben Ort zusammen. Einer von ihnen, ein Gesetzeslehrer, wollte ihn versuchen und fragte ihn: Meister, welches Gebot im Gesetz ist das wichtigste? Er antwortete ihm: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit deinem ganzen Denken. Das ist das wichtigste und erste Gebot. Ebenso wichtig ist das zweite: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. An diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten.“
Beim Lesen dieses Evangeliums hat mich der Satz irritiert „als Jesus die Sadduzäer zum Schweigen gebracht hatte“. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er sie mundtot gemacht hat, dass er ihnen eine Redeschlacht geliefert hat und mit Triumph als Sieger daraus hervorging. Lese ich die Schriftstelle davor, so antwortete Jesus den Sadduzäern und sprach zu ihnen: „Ihr irrt euch; ihr kennt weder die Schrift noch die Macht Gottes.“ Für mich klingt das eher etwas traurig und er versucht, dies ihnen vorsichtig und zärtlich nahezulegen.
So kommen die Pharisäer also auf die Idee nachzuhaken, wie genau es Jesus mit den Geboten nimmt und lehrt. Man hat ja schon viel Schlimmes davon gehört – von wegen Sabbatruhe!

Foto: Uli Kirchhoff
Meister, welches Gebot im Gesetz ist das wichtigste? Eine Frage, wie man sie vielleicht in der Bibelschule hört oder unter Juristen erörtert: Man schlägt sich Paragraphen um die Ohren und freut sich, wenn man am Ende als Sieger aus der Schlacht hervorgeht, den anderen vielleicht sogar dumm dastehen lässt.
Ich vermute, dass Jesus da ganz ruhig geblieben ist. Vielleicht auch erst mit dem Finger auf dem Boden herumgestochert hat, [wie in der Geschichte mit der Ehebrecherin,] um dann liebevoll zum Pharisäer aufzublicken und ruhig mitzuteilen: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit deinem ganzen Denken. Das ist das wichtigste und erste Gebot.“ Und vielleicht nach einer kurzen Denkpause noch liebevoller, leiser und zärtlicher anzufügen: „Ebenso wichtig ist [für mich] das zweite: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“
Wir wissen nicht, wie diese Geschichte geendet hat. Der Bibelabschnitt schweigt sich darüber aus. Vielleicht war es wirklich ein Schweigen, das Jesus im Pharisäer und den Umstehenden ausgelöst hat, ein tiefes Innehalten und Aufmerken:
Ich kann mir vorstellen, dass der Pharisäer innerlich davon betroffen war. Er kam gereizt – Jesus blieb ruhig. Er forderte heraus – Jesus blieb ihm zugewandt. Er missbrauchte die Gebote Gottes, um einen anderen in Versuchung zu bringen – Jesus blieb ruhig und klar ohne eine Spur von Vorwurf. Hatte nicht er selbst den Boden des Gesetzes verlassen, indem er Jesus, seinen Nächsten, Knüppel in den Weg legen wollte? Hatte er mit dem Verzicht auf Nächstenliebe dabei nicht auch das wichtigste Gebot selbst verraten, Gott in allem treu und hingebungsvoll zu lieben? Und er will ein Gesetzeslehrer sein? – Und Jesus schweigt, stellt ihn nicht öffentlich bloß, sondern gibt ihm eine Chance, darüber nachzudenken und sich zu ändern: Ein heilsames Schweigen. – Besteht noch Klärungsbedarf?
Es grüßt Sie herzlich
Uli Kirchhoff
3. November 2020
Hier noch eine weitere Fassung der gleichen Geschichte oder der gleichen Klärung, wie sie uns das Markus-Evangelium berichtet. Da endet es tatsächlich ganz einig und friedlich. Im Lukasevangelium wird noch als weitere Klärung die Geschichte vom „barmherzigen Samariter“ hinzugefügt, die uns hier Vincent van Gogh gemalt hat. Der Samariter hebt den Verletzten auf sein Reittier.

Bild: Vincent van Gogh - Der gute Samariter
Markus 12,28 - 34
12,28 Und es trat zu ihm einer der Schriftgelehrten, der ihnen zugehört hatte, wie sie miteinander stritten. Als er sah, dass er ihnen gut geantwortet hatte, fragte er ihn: Welches ist das höchste Gebot von allen? 29 Jesus antwortete: Das höchste Gebot ist das: »Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der Herr allein, 30 und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und mit all deiner Kraft« (5. Mose 6,4-5). 31 Das andre ist dies: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst« (3. Mose 19,18). Es ist kein anderes Gebot größer als diese. 32 Und der Schriftgelehrte sprach zu ihm: Ja, Meister, du hast recht geredet! Er ist einer, und ist kein anderer außer ihm; 33 und ihn lieben von ganzem Herzen, von ganzem Gemüt und mit aller Kraft, und seinen Nächsten lieben wie sich selbst, das ist mehr als alle Brandopfer und Schlachtopfer. 34 Da Jesus sah, dass er verständig antwortete, sprach er zu ihm: Du bist nicht fern vom Reich Gottes. Und niemand wagte mehr, ihn zu fragen.