Im Konjunktiv

Foto: Thomas Gertler

Wenn es nur einmal so ganz stille wäre

Wenn es nur einmal so ganz stille wäre.
Wenn das Zufällige und Ungefähre
verstummte und das nachbarliche Lachen,
wenn das Geräusch, das meine Sinne machen,
mich nicht so sehr verhinderte am Wachen -:

Dann könnte ich in einem tausendfachen
Gedanken bis an deinen Rand dich denken

und dich besitzen (nur ein Lächeln lang),
um dich an alles Leben zu verschenken
wie einen Dank.
Rainer Maria Rilke, 22.9.1899

Ja, wenn es einmal nur so ganz stille wäre. Stille ringsum. Stille in mir. Ja, wie wäre es gut und wie täte es gut. So ganz stille. Sehnen Sie sich auch zuweilen danach? So etwa wie hier am Meer. Und wie schön es Rilke schildert, die Sehnsucht und was alles die Erfüllung dieser Sehnsucht hindert: all dieses so Unwichtige und Zufällige, das laute Lachen des Nachbarn. Aber auch in mir: immer höre ich doch etwas und wenn es der Vogelschrei ist oder das leise, sanfte Anrollen der Wellen. Eben das Geräusch, das meine Sinne machen. Immer lenken sie mich ab und hindern mich ganz da zu sein, ganz wach und aufmerksam.

Dann, ja dann, wenn ich einmal so ganz stille wäre, könnte ich den Saum Gottes berühren, mich an den Rand von Gottes Wirklichkeit denken. Ja, dann könnte ich, so ahne ich es, Gott sogar einen Augenblick lang besitzen. Und davon ganz erfüllt und überfüllt, Gottes Wirklichkeit weiterschenken an alle als meinen großen Dank.

Dann, ja dann, wenn es denn nur einmal so ganz stille wäre… Aber das ist es ja nicht. Das ist es ja nie und nie.

Und an dieser Stelle, liebe Leserin, lieber Leser, da möchte ich gern dem lieben Rilke einen Tritt verpassen oder wenigstens so einen Rippenstoß und ihm sagen: Warum immer nur im Konjunktiv? Warum immer nur in der Möglichkeitsform? Bleib doch bitte nicht immer nur beim Wünschen und Sehnen. Bleib doch nicht immer bei den Ausreden. Hätte, hätte Fahrradkette! Wäre, wäre Ostseefähre! Sei es doch einfach mal! Sei doch mal wirklich still und lass alle die Geräusche Geräusche sein und halt du einmal die Stille. Lass die Gedanken los und die inneren Geräusche und die Sinneseindrücke. Lass sie doch mal sein, folge ihnen nicht und trau der Stille. Lass dich los auf diese Stille hin. Sie ist da und wartet auf dich.

Stille ist nicht das Schweigen aller Geräusche, nein, Stille ist das selber endlich Schweigen und in das Schweigen gehen. Gut, es kann sein, dass ich erst mal viel reden muss, weil raus muss, was mich so sehr erfüllt und besetzt, mich ängstigt und besorgt. Sag es, sprich es aus in Gottes großes Ohr. Und dann geh weiter, geh hinein in das Schweigen. Die Stille ist schon da. Sie wartet auf dich. Lass sie zu. Lass sie ein. Keine Ausreden und kein Wenn und Aber mehr, auch wenn sie so schön wären wie die von Rilke in seinem Gedicht. Nein, jetzt lass deine Stille dich erfüllen ganz von Ihm und Seiner Liebe. Du wirst voll Frieden aus dieser Stille kommen. Und der Friede wird dann ausstrahlen ganz von selbst.

Das wünsche ich Ihnen – auch wenn es nicht leicht ist und Übung braucht. Aber die Stille ist da und Sie können in sie einkehren.

Mit einem herzlichen Gruß
Thomas Gertler SJ

04. September 2019

Ja, das ist ein schönes Bild. Dieses Bild hier unten, das Madonna des Nordens heißt. Aber auch das Bild des Psalms 131. Der Verfasser des Psalms macht seine Seele still, wie dieses Kind an der Schulter seiner Mutter. Gott ist ihm diese Mutter, bei der ich still werde, Frieden finde, mich ganz loslassen kann. Und das strahlt dieses Bild aus. Es bringt auch mir Frieden.

 

Psalm 131,1 - 3

131,1 … HERR, mein Herz überhebt sich nicht, nicht hochmütig blicken meine Augen, ich gehe nicht um mit großen Dingen, mit Dingen, die mir nicht begreiflich sind.
2 Vielmehr habe ich besänftigt, habe zur Ruhe gebracht meine Seele. Wie ein gestilltes Kind bei seiner Mutter, wie das gestillte Kind, so ist meine Seele in mir.
3 Israel, warte auf den HERRN von nun an bis in Ewigkeit!