Das ging mir mit vielen Mathematikaufgaben so und auch in vielem beim Mathe-Unterricht überhaupt. Ich konnte es nicht verstehen. Und ich war der Meinung, wenn ich es jetzt beim Unterricht nicht verstehe, dann werde ich es auch niemals verstehen. Entweder gleich einsehen und kapieren oder nie. Es hat lange gedauert und war dann schon in der 11. Klasse, als ich merkte, nein, wenn ich mich hinsetze und nachdenke und lerne und versuche zu verstehen, dann kapiere ich es doch noch. Also das war ein Irrtum meinerseits: entweder sofort oder nie. Nein, mit der Zeit verstehe ich es doch noch.
Das eigentliche Lernen ist aber nicht das in der Schule, so wichtig es ist. Das eigentliche Lernen ist, wie uns die Lehrer natürlich immer schon gesagt haben, das Leben: non scolae sed vitae discimus (obwohl es beim alten Seneca umgekehrt heißt: Nicht für das Leben, für die Schule lernen wir – als Kritik an der damaligen Schule). Und da geht es uns auch sehr oft so: wir verstehen nicht, was uns geschieht. Was es soll. Wo der Sinn liegt. Und das ist viel schmerzlicher und tiefer gehend als in der Schule.
Warum ist mir der geliebte Mensch ein solches Rätsel? Warum müssen wir immer so ringen, einander zu verstehen? Warum ist mein Beruf so ganz anders, als ich es mir vorgestellt habe und jetzt oft kaum auszuhalten? Warum tut es so weh, wenn die Kinder erwachsen werden und so völlig anders eingestellt sind als ich? Nichts konnte ich ihnen anscheinend vermitteln. Warum fällt mir das Loslassen so schwer? Ich verstehe es nicht… Warum der ständige Streit mit meinem alten Vater? Wir lieben uns doch. Ich verstehe es nicht…
Warum jetzt diese Krise in meinem Leben? Es geht nicht mehr so weiter. Warum nur? Warum muss das gerade mir passieren? Nichts geht mehr. Es ist anscheinend alles vorbei. Alle anderen gehen strahlend und erfolgreich durchs Leben nur ich nicht! Ich verstehe es nicht…
Ja, so eine Krise hatte ich auch. Und sie war tatsächlich grundstürzend. Und immer wieder begegnen mir Menschen in solchen Krisen und sie können sie nicht verstehen. Das ist die erste und ganz normale Reaktion. Dass diese erste Reaktion erstmal die Frage ist und das Unverständnis, das ist sehr verständlich. Und alle Antworten von den Umstehenden und Beistehenden sind erstmal gar nicht hilfreich. Sie sind mir nur lauter Schlaumeiereien. Ich will sie alle gar nicht hören. Denn was ich will, das ist keine Antwort und keine Deutung und schon gar keine Erklärung, sondern ich will diese Krise und die Trauer und den Rauswurf aus allem Bisherigen einfach nicht haben. Ich will sie los sein. Es soll gefälligst so sein, wie es war!!! Nicht diese unmögliche Situation jetzt. Verstehst Du das denn nicht?
Es dauert, und es dauert lange, bis ich es akzeptiere, dass jetzt alles anders ist und dass es auch nicht so wieder kommt, wie es war. Das dauert lange. Und braucht oft noch eine ganze Menge an Wut und Trauer. Die wollen erst mal das Ihre, nämlich Zeit. Und die dürfen und sollen sie auch haben. Geht gar nicht anders. Erst wenn sie ihre Zeit gehabt haben, dann besteht die Chance, neu zu sehen und zu verstehen. Dann kann es losgehen. Womit? Mit dem Neubeginn und dann auch mit dem Verstehen.
Erst mal gar nicht vorstellbar, dass es nach der Katastrophe noch ein Leben gibt, aber es gibt es. Es gibt die Auferstehung. Und dann, erst dann kommt das Verstehen. Jetzt verstehe ich erstmal nicht. Jetzt bin ich blind. Wie die Emmausjünger (Lk 24,13 ff)). Wie Maria von Magdala, die Jesus für den Gärtner hält (Joh 20,14 ff). Erst als er sie beim Namen ruft, gehen ihr die Augen auf. Erst da versteht sie.
Und das wird auch uns so gehen, die wir jetzt erst einmal nicht verstehen. Aber dann wird mir vielleicht geschenkt, doch zu verstehen und zu sehen: ja, es musste so kommen und es war gut so und es hat mir den Blick auf ein neues Leben, ein unvorstellbar neues Leben geöffnet.
Das wünsche ich jedem, der sich gerade in einer Krise, in Trauer, in totalem Unverständnis befindet: Geduld und Neubeginn.
Thomas Gertler SJ
9. Mai 2018
PS: Vielleicht sehen wir uns ja beim Katholikentag in Münster. Ich halte da einen Vortrag über die ignatianischen Exerzitien als Weg zum Frieden am Donnerstag um 14.00 im Annette-von-Droste-Hülshoff-Gymnasium, Raum 119.
Oder wir treffen uns beim Gottesdienst der ignatianischen Gemeinschaften am Samstag um 12.30 im Dom.
Das sagt Jesus seinen Jüngern öfter, dass sie jetzt nicht verstehen, aber später verstehen werden, zum Beispiel dem Apostel Petrus bei der Fußwaschung (Joh 13,7), aber auch ein paar Zeilen später allen Jüngern in seinen Abschiedsreden. Gottes Geist, um den wir jetzt vor Pfingsten besonders beten, schenkt uns dieses Verstehen. Ich finde das sehr tröstlich und schön. Ich muss nicht alles gleich und sofort verstehen. Jesus nimmt mich an mit allem Unverständnis auch beim Abendmahl. Jesus vertraut auf den Geist, der mich lehren wird, alles zu verstehen.
Joh 14, 23 - 27
14,23 Jesus sprach: Wenn jemand mich liebt, wird er an meinem Wort festhalten; mein Vater wird ihn lieben und wir werden zu ihm kommen und bei ihm wohnen. 24 Wer mich nicht liebt, hält an meinen Worten nicht fest. Und das Wort, das ihr hört, stammt nicht von mir, sondern vom Vater, der mich gesandt hat. 25 Das habe ich zu euch gesagt, während ich noch bei euch bin. 26 Der Beistand aber, der Heilige Geist, den der Vater in meinem Namen senden wird, der wird euch alles lehren und euch an alles erinnern, was ich euch gesagt habe. 27 Frieden hinterlasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch; nicht einen Frieden, wie die Welt ihn gibt, gebe ich euch. Euer Herz beunruhige sich nicht und verzage nicht.