
Foto: André Karwath - CC BY-SA 2.5
Ein guter Freund hat sich diesen Grundsatz gestellt, nachdem er einen Herzinfarkt hatte. Zusammen mit einem zweiten Satz: „Ich bin auch wichtig!“ Beide gehören zusammen. Ich will aber heute nur mal über den einen mit Ihnen meditieren: Ich muss nicht mehr! Der andere kommt dann nächstes Mal dran oder ein andermal. Ich muss ja nicht mehr!
Mein Freund sagt sich jetzt jeden Morgen diesen Satz vor: Ich muss nicht mehr, weil er bisher aus dem Satz gelebt habe: „Ich muss“. Wenn ich jetzt an mich denke, dann nicht einmal „Ich muss“, sondern meist so. „Es muss…“ Es muss heute erledigt werden. Es muss diese Woche geschafft werden. Es muss bis um drei fertig sein. Wie oft sage ich mir diese Worte oder ähnliche Worte. Es muss. Ich muss. Und sie setzen mich unter Druck und sie treiben mich an. Sie stellen mich unter ein Gesetz, dem ich mich unterstelle. Das bin gar nicht ich, darum: ES muss.
Wie oft ein Gesetz aus lauter Liebe, Entgegenkommen und Freundlichkeit. Ein Computerfachmann sitzt bei mir vor meinem Bildschirm. „O wie willkommen sind die Füße des Freudenboten, der Hoffnung bringt“, geht mir durch den Sinn. Nach Feierabend ist er gekommen, der Freudenbote. Jetzt wird das Problem mit der Festplatte wohl endlich gelöst. ̶ Aber was ist mit ihm und seiner Familie? Er kommt, weil ich soooo nötig Hilfe brauche und er gern hilft und das auch aus christlicher Einstellung tut, aber dass er selbst vielleicht auch mal Ruhe und Abstand und Zeit für seine Frau und die Kinder braucht…
Wie oft rate ich den Menschen, die zu mir zum Gespräch kommen: Du musst auch mal Nein sagen können! Also da schon wieder „Du musst“! Nein, nicht schon wieder Du musst, darum sage ich: „Du darfst auch Nein sagen! Sogar Jesus hat Nein gesagt! Lies nur mal diese Geschichte in Lk 12.13-15!“. Dann aber stelle ich selbst jemanden unter dieses Muss: „Sie müssen mir unbedingt helfen, meine Festplatte hat nen Platten.“ Und wie oft lasse ich mich unter dieses Muss stellen. Ja, das muss doch noch sein. Dieser Vortrag. Dieses kleine Artikelchen. Dieses Viertelstündchen. Dabei weiß ich, dass die Viertelstündchen meist viel länger als eine Viertelstunde dauern und leicht ganze Stunden erreichen können.
Aber wie soll ich denn davon weg kommen? Ich bin doch noch kein Rentner und so vieles muss ich doch noch müssen! Geht doch gar nicht anders! Aber das ist ja gerade das Provokative an dem Satz: Ich muss nicht mehr! „Provocare“ heißt „hervorrufen“. Der Satz will mein Nachdenken hervorrufen und heraufrufen. Und das tut er. Das Muss stellt unter ein Gesetz. Das befiehlt mir nicht nur, es entlastet mich auch. Es nimmt mir ein Stück Verantwortung. Darum sage ich eben auch: „Es muss“, nicht mehr „Ich muss“. Erster Schritt vom davon weg kommen: Nimm dich selbst wieder mit hinein in die Verantwortung. Sage bewusst „Ich“. Es geht um dich! (Und siehe, da berührt sich unser Satz mit dem zweiten: Ich bin auch wichtig.)
Und ist es wirklich ein „Muss“? Ist es wirklich ein Gesetz? Ist es wirklich so unumgänglich? Ist es wirklich nötig? Und für wen? Das ist nämlich eine Falle. Das Muss nehmen wir so leicht unbefragt hin, als selbstverständlich und unumgänglich und eben so gegeben. Aber das stimmt oft gar nicht. Es muss tatsächlich gar nicht sein. Das merke ich häufig erst, wenn ich krank bin. Plötzlich geht es auch so. Ohne mich. Ich muss nicht dabei sein. Das Wochenende schaffen sie tatsächlich auch so. Es geht. Ich muss nicht mehr. Und das darf ich auch im Bewusstsein behalten, wenn ich wieder pumperlgsund bin (wie man hier sagt).
Allerdings das ist das Schwerste: Der lange Weg vom Wissen: „Ich muss nicht mehr“, zum tatsächlichen Durchsetzen des: „Ich muss nicht mehr“. Oft braucht es eine schlimme Katastrophe wie bei meinem Freund. Aber das muss doch nicht sein? Oder?
Jetzt muss ich aber Schluss machen, nein, jetzt darf ich Schluss machen und grüße Sie herzlich
Thomas Gertler SJ
17. Januar 2018
Es gibt so einen Zwang auch im Religiösen und der ist häufig. Paulus hat das so erlebt und er ist auch durch eine Katastrophe – den Sturz vom Pferd, die folgende Blindheit und dann wirklich durch die Taufe davon befreit worden (vgl. Apostelgeschichte 9,1-9) und zum Künder der Freiheit geworden, der Freiheit der Kinder Gottes. Besonders die Gemeinde im heute türkischen Galatien, die Galater beschwört er, nicht wieder in das Muss und das Gesetz zurückzufallen, sondern in der Freiheit zu leben.

Die Bekehrung des Paulus nach Caravaggio (1600)
Gal 5,1 - 6
5,1 Zur Freiheit hat uns Christus befreit. Bleibt daher fest und lasst euch nicht von neuem das Joch der Knechtschaft auflegen! 2 Hört, was ich, Paulus, euch sage: Wenn ihr euch beschneiden lasst, wird Christus euch nichts nützen. 3 Ich versichere noch einmal jedem, der sich beschneiden lässt: Er ist verpflichtet, das ganze Gesetz zu halten. 4 Wenn ihr also durch das Gesetz gerecht werden wollt, dann habt ihr mit Christus nichts mehr zu tun; ihr seid aus der Gnade herausgefallen. 5 Wir aber erwarten die erhoffte Gerechtigkeit kraft des Geistes und aufgrund des Glaubens. 6 Denn in Christus Jesus kommt es nicht darauf an, beschnitten oder unbeschnitten zu sein, sondern darauf, den Glauben zu haben, der in der Liebe wirksam ist.