
Foto: © Christine Limmer, Pfarrbriefservice
Haben Sie schon einmal versucht, Ihren Namen mit der linken Hand zu schreiben (oder als Linkshänder mit rechts)? Es soll ein gutes Training für das Gehirn sein, zur Abwechslung diejenige Hand oder Körperseite zu benutzen, die man sonst nicht benutzt, zum Beispiel beim Aufschließen einer Tür oder beim Wenden der Bratkartoffeln in der Pfanne. Man kann auch einmal von der ungewohnten Seite her aufs Fahrrad steigen. Das alles fühlt sich zunächst fremd und unsicher an, aber diese kleinen, feinen Provokationen sollen eine belebende Wirkung auf Gehirn und Muskulatur haben.
Die namhafte Geigerin Anne-Sophie Mutter erzählt, dass Sie zwar nur eine einzige Geige, aber unfassbar viele Bögen besitze, deren unterschiedlichen Gewichte sich zwischen 58 und 63 Gramm bewegen. „Fünf Gramm sind eine Menge“, sagt sie. Sie wechsle die Bögen regelmäßig, manchmal repertoireabhängig, aber auch um die Muskulatur immer wieder aufmerksam zu halten, um nicht in Routine zu verfallen. „Ich will mich von einem Bogen gestört und irritiert fühlen“, so die 57-Jährige (Die Zeit 54/20).
Wovon lassen wir uns im guten Sinn stören, irritieren, provozieren, beunruhigen, um wachsen zu können und uns wandeln zu lassen? Muss man eine Prinzessin auf der Erbse sein, um sich selbst und sein Umfeld wach und sensibel wahrnehmen zu können? Was hält uns im Glauben, in unserer Sehnsucht nach Gott wach? Der Apostel Paulus spricht vom „Stachel im Fleisch“ und weiß sehr genau: Immer, wenn es piekst, will Gott ihn zu Maß und Demut ermahnen: „Meine Gnade genügt dir.“ (2 Kor 12,7-9)
Jeder kennt solche individuellen Stacheln und Stolperkanten, die uns ein Leben lang begleiten, die quasi zu uns gehören und mit denen wir uns (hoffentlich und ehrlichen Herzens) vertraut gemacht haben. Vielleicht brauchen wir sie sogar wie Anne-Sophie Mutter ihre Bögen? -
Denn genau „da setzt nun die Arbeit Gottes ein: es kommen die Leiden und Heimsuchungen und machen den Menschen von Jahr zu Jahr fähiger und brauchbarer für das subtile Werk, bis er endlich richtig auf jenes Milligramm reagiert – ach, vielleicht ist es nur ein Tausendstel Milligramm, vielmal leichter als der Windhauch, der die Waage schon belastet und ihr Zünglein unruhig macht!“ So schreibt der schlesische Theologieprofessor und Schriftsteller Joseph Wittig (1879-1949) in seinem autobiografischen "Roman mit Gott". Der leidenschaftliche und menschenfreundliche aber lehramtlich umstrittene und schließlich exkommunizierte Priester erzählt offen von seinem seelischen Leiden, von Schwertmut, Schlaflosigkeit und körperlichen Gebrechen. Er, der sprachgewandte Autor unzähliger Bücher, Predigten und Artikel, sinniert über seine Gottesbeziehung. „Ist nicht gar alles Geschriebene und Gedruckte zu grob, alles Gepredigte zu laut?“
Sodann beschreibt Wittig eine Szene, die wunderbar in unsere ausklingende Weihnachtszeit passt: „Wenn das heilige Mädchen von Nazareth des Nachts an das Bett ihres Kindes trat und ganz leise den Namen Jesus darüber hauchte, das war eher geeignet zur sprachlichen Formulierung des Gottesbegriffs.“ – Welche Zartheit, welche Einfachheit und Unmittelbarkeit des Glaubens und der Anbetung! Aus dieser Geborgenheit und Verborgenheit in Galiläa heraus konnte Jesus erwachsen und seine Sendung für die Welt angehen und erfüllen.
Wenn es Sie interessiert: Hier ist eine kleine Hinführung unterlegt zum Jesus-Gebet,
wie Christen es von jeher in Klöstern oder Wohnungen praktizieren.
Von dem Wort Waage leitet sich das Ab-Wägen und Er-Wägen ab, wenn wir also innerlich etwas überlegen und hin und her wenden.

Gewicht einer Dezimalwaage
Foto: M. Fricke
Manchmal helfen uns dabei, bildlich gesprochen, die großen Gewichte der Dezimalwaage, die auf den ersten Blick die Richtung anzeigen. Oft ist es aber die sensible Anzeige der Feinwaage, ist es das Milligramm aufrichtiger Sehnsucht und Suche, das unruhige oder ängstliche Herz, das „Verkosten der Dinge von innen her“ (Ignatius von Loyola), das Zeit und Geduld braucht. Gerade diese feinen und leisen Regungen der Seele wollen uns beim Abwägen helfen, etwa wenn wir eine Entscheidung treffen, Eingefahrenes verändern oder Neues beginnen wollen.
„Gott in uns: das ist es, was nottut“, sagt Madeleine Delbrêl. Seit fast einem Jahr sind wir unfreiwillig gestört und irritiert durch eine Pandemie. Auch oder gerade jetzt dürfen wir gewiss sein: Kein Milligramm der Nähe und Zuwendung Gottes geht verloren. Lassen wir Ihn in uns und durch uns in der Welt wirken.
Ich wünsche Ihnen Gottes spürbare Nähe und auch die Heiterkeit des Herzens in schwieriger Zeit.
Herzlich grüßt Sie
Marlies Fricke (GCL)
13. Januar 2021
Wegen der Corona-Regeln verbringen wir vielmehr Zeit als sonst in unseren vier Wänden. Wir können die Zeit auch nutzen, um unsere „innere Kammer“ aufzusuchen, um dort Vertrauen und Mut bei Gott zu schöpfen. Gott weiß ja, was wir brauchen.
Matthäus-Evangelium 6,5-15
5 Wenn ihr betet, macht es nicht wie die Heuchler! Sie stellen sich beim Gebet gern in die Synagogen und an die Straßenecken, damit sie von den Leuten gesehen werden. Amen, ich sage euch: Sie haben ihren Lohn bereits erhalten. 6 Du aber, wenn du betest, geh in deine Kammer, schließ die Tür zu; dann bete zu deinem Vater, der im Verborgenen ist! Dein Vater, der auch das Verborgene sieht, wird es dir vergelten. 7 Wenn ihr betet, sollt ihr nicht plappern wie die Heiden, die meinen, sie werden nur erhört, wenn sie viele Worte machen. 8 Macht es nicht wie sie; denn euer Vater weiß, was ihr braucht, noch ehe ihr ihn bittet.