
Foto: Nick J Webb - CC BY 2.0
Ein Ball rollt von links auf mein Fahrrad zu. Geistesgegenwärtig bremse ich, denn wie so oft läuft ein Kind hinter dem Ball her. Welch ein Glück! Nichts passiert! Hier ist Geistesgegenwart die Wachheit und Reaktionsschnelligkeit meines eigenen Geistes. Und diese Präsenz ist zumeist mit diesem Wort gemeint. Das Da-Sein mit aller meiner Aufmerksamkeit im Augenblick, im Moment. So wie oben zu sehen beim Start des olympischen Laufes. Der Reaktionsschnellste hat den besten Start.
Und dieses ganz im Augenblick da sein wird ja so oft auch in der Spiritualität als das Ideal dargestellt. Ganz und gar gegenwärtig zu sein. Aufmerksam sein. Oder ist das falsch? Ist derjenige im Startloch ganz bei sich? Oder ist er ganz und gar nach außen gerichtet? Nämlich hin zum Knall der Startpistole. Das Ideal der Präsenz in der Spiritualität ist doch mehr nach innen gerichtet. Oder? Wenn ich da ganz präsent auf meiner Decke sitze und es neben mir knallt, zucke ich idealerweise nicht mal zusammen, so sehr bin ich in mir gesammelt. Äußere Dinge wie Lärm stören mich in meinem Gesammeltsein gar nicht. Ich bin ganz wach da, aber in mir. Nicht nach außen gerichtet.
Ich nehme wahr, was da geschieht. Das ja. Aber ich reagiere nicht sofort, sondern bleibe bei mir, in mir, im Innersten, bei Gott. Und daraus reagiere ich dann. Und nun gewinnt dann das Wort Geistesgegenwart einen weiteren Sinn. Da geht es eben dann nicht nur um meinen Geist und dessen Gegenwart, sondern da geht es auch um die Gegenwart des Gottesgeistes in mir und um meine Aufmerksamkeit auf ihn hin. Bei dieser Geistesgegenwart ist immer dabei die Unterscheidung der Geister mit der Frage: ist das jetzt gleichgültiger äußerer Lärm oder Zeichen von Gefahr oder gar Ruf um Hilfe und um dringendes Eingreifen? Das sofort unterscheiden zu können, gehört zu dieser Geistesgegenwart.
Das können wir üben, wie die Sportler die Startsituation üben, immer wieder üben. Um da immer wacher und präsenter zu sein. Und dieses geistige/geistliche Üben gehört dann zu unserem Christsein hinzu, nämlich immer wacher auf Gottes Geist zu hören. Ja, mit Gottes Geist selbst verbunden zu sein. Und das führt nun zu einer ganz überraschenden Beobachtung. In der realen Zeit gibt es nämlich eigentlich gar keinen Zeit-Punkt. Zeit fließt kontinuierlich. Da gibt es keine Unterbrechungen. Diese Unterbrechungen machen nur wir selbst in unserem Hirn oder durch unsere Zeitmessapparate oder die Filmkamera mit ihren Fotos (mindestens 15 pro Sekunde). Es gibt also in der Realität gar keinen Augenblick, der verweilen könnte, so sehr Goethe das ersehnt. Der Augenblick ist ein Zeit-Punkt und diesen Punkt gibt es gar nicht. Präsenz als stehendes Jetzt, als „nunc stans“ gibt es nicht in der kontinuierlich fließenden Zeit.
Vielmehr ist dieser Augenblick von der spirituellen Tradition her gesehen eigentlich der Einbruch der Ewigkeit in die Zeit. Oder wie ich so schön gelesen habe, dieser Augenblick „ist das selbst nicht zeitliche Nadelöhr, durch das die Zeit gezogen wird“ (R. Safranski, Zeit, 228). Oder mehr von der Theologie her gesagt. Dieser Augenblick ist eigentlich zeitenthoben und mit Gott verbunden. Gott ist ja die reine Gegenwart, in der Vergangenheit und Zukunft gesammelt sind. Wir Menschen gehen also in solchen Augenblicken in (begrenzter Weise) in Gottes unbegrenzte reine Gegenwart ein. Das sind die Augenblicke der Mystik, der Liebe, des Glückes, des Flow, wie man heute sagt. In ihnen bin ich ganz bei mir, weil ich ganz beim Anderen und ganz bei der Sache bin. Ich erlebe sie als Geschenk, das ich nicht machen kann, aber ich kann mich empfangsbereit machen, indem ich diese Geistesgegenwart übe.
Ich gehe in die Stille, lasse allen äußeren und inneren Lärm vorüberziehen, gehe heraus aus dem selber Reden hinein ins Lauschen, ins Lauschen in mein Innerstes und tiefer als mein Innerstes, wo Gott wohnt und wo er zu mir spricht. Ins Lauschen auf sein Wort, das im Wort der Bibel mein Herz erreichen will. Ins Lauschen auf den Anruf aus der Zeit, der die Antwort des Glaubens erheischt. In dieser Versenkung, im ganz da Sein berührt mich Gottes Gegenwart zuweilen als gnadenhafter Augenblick, als seine Geistesgegenwart.
Die wünsche ich nun Ihnen und uns allen
Thomas Gertler SJ
10. Juni 2020
Der Evangelist Lukas schildert uns solch einen Augenblick der Geistesgegenwart im Leben Jesu bei seiner Taufe im Jordan. Das Bild unten ist seit Pfingsten in unserer Kirche Sankt Michael in Göttingen zu sehen.

Foto: Thomas Gertler
Lukas 3,21 - 22
3,21 Es geschah aber, dass sich zusammen mit dem ganzen Volk auch Jesus taufen ließ. Und während er betete, öffnete sich der Himmel 22 und der Heilige Geist kam sichtbar in Gestalt einer Taube auf ihn herab und eine Stimme aus dem Himmel sprach: Du bist mein geliebter Sohn, an dir habe ich Wohlgefallen gefunden.