
Foto: Marlies Fricke
In meiner Wohnung hängt seit 2014 derselbe Kalender. Ich mag die großformatigen August-Macke-Bilder, und weil ich das kleingedruckte Kalendarium darunter nicht brauche, blättere ich Jahr für Jahr und Monat für Monat die Seiten einfach immer wieder um. - Ein liebgewordener Wandschmuck!
„O, bestimmt ein Kalender!“ freute ich mich ehrlich, als mir nun zum Jahreswechsel jemand ein großes flaches Paket mitbrachte und ich neugierig die Klebestreifen von der Verpackung löste. Aber beim Herausziehen ließ mich das Titelbild - siehe oben - doch leicht erschrecken. „Lauter Fotos von Gefängnissen?!“ war mein erster Gedanke, „wer hängt sich denn sowas auf?“
Was wäre Ihre erste Reaktion gewesen? –
Warum wecken bestimmte Lebenswelten oft spontan Unbehagen, Zurückhaltung oder gar Widerstände in uns? Meistens ist es ja eher unbewusst und unreflektiert, was sich da in uns meldet.
Ich erinnere mich an den Roman von Ingeborg Drewitz Gestern war heute, den ich „zwischen den Jahren“ gelesen habe, eine Berliner Familiengeschichte. Die Protagonistin Gabriele, Ende 50, hat zum ersten Mal eine Besuchserlaubnis für eine Haftanstalt bekommen:
„Ehe die Besucher der Untersuchungshaftanstalt Moabit um 10 Uhr eingelassen werden, drängen sie sich vor dem Portal so eng aneinander, als müsse einer den anderen überrunden. Aber vielleicht suchen sie auch nur die Wärme der anderen. Oder verkriechen sich in der anonymen Menge. … Hinter ihr reden welche von Petern seine Möbel, die sie sich holen wollen, denn der verschwindt doch hier uff zehn, zwölf Jahre! … Gabriele registriert den Abstand, der um sie ausgespart bleibt. Sie gehört nicht dazu, und das ist ihr nicht einmal unangenehm. Sie hat sich dabei ertappt, dass sie nicht direkt auf die U-Haftanstalt zugegangen ist, sondern schon ein paar Hundert Meter vorher die Straßenseite gewechselt hat, um dicht an den Häusern entlang zu gehen, vor dem Tabakladen und dem Grünkramladen stehenzubleiben wie irgendeine, die Einkäufe macht und dann wie zufällig vor der U-Haftanstalt auf die Wartenden zugeht …“
Gabriele möchte am liebsten gar nicht dazu gehören zu den U-Haft-Besuchern, irgendwie ist es ihr unbehaglich oder peinlich. Ähnliches kennen wir vielleicht aus unserem Alltag. Da gibt es Orte und Lebenswelten, um die wir eher einen Bogen machen: der Netto oder die Tafel in einem sogenannten sozialen Brennpunkt; ein Wohnheim für Leiharbeiter oder Asylsuchende; ein Hospiz oder eine psychiatrische Abteilung; eine Übernachtungsstelle für Wohnungslose; ein industrieller Schlachthof, in dem rund um die Uhr Menschen am Fließband stehen; die in Trennung lebenden Nachbarn; die arabische Bettlerin, die täglich in der Fußgängerzone sitzt … Mit Unbehagen denke ich heute an das Spiel aus meiner Kinderzeit zurück „Wer hat Angst vorm schwarzen Mann?“. Aus meiner Sicht war das eine - damals vielleicht unbewusste aber subtile - Form, um Kindern Angst vor dem Fremden und Ungewohnten zu suggerieren.
Und doch sind solche Lebenswelten und Lebensumstände, die den meisten von uns eher fremd sind, Teil unserer Wirklichkeit und unseres gesellschaftlichen Lebens. „Christen sind keine Wirklichkeitsflüchtlinge. Der Glaube ist keine Sonderwelt“ (Manfred Scheuer). Wer gläubig auf die Wirklichkeit sieht, betrachtet sie mit anderen Augen. Der Glaube sagt uns, dass Gott auf die Menschen in der EINEN Welt schaut, dass er bis in den letzten Winkel jede und jeden meint: „Ich habe dich ausgelöst, ich habe dich beim Namen gerufen, du gehörst mir!“ (Jes 43,1) Das Evangelium vermittelt uns, dass wir in jedem menschlichen Antlitz CHRISTUS begegnen. Verweigern wir uns der Wirklichkeit, so verweigern wir uns IHM, denn „Gott umarmt uns durch die Wirklichkeit“ (Willi Lambert SJ).
Umarmt durch die Wirklichkeit. - Nun kann eine Umarmung willkommen und wohltuend sein. Aber manchmal fühlen wir uns auch ein wenig überrumpelt – wer kennt das nicht? Dann gilt es zu unterscheiden und zu deuten: Was soll das für mich heißen? Wie soll ich damit umgehen, wenn ich „umarmt“ werde durch eine Situation, der ich eigentlich lieber den Rücken zukehren möchte? Überfordert sie mich? Oder kann ich sogar daran wachsen?
Ich lade zu einer kleinen Reflexion ein:
- Wo erlebe ich in meinem Umfeld Fremdes (Menschen, Orte, Ereignisse usw.)? Welche Gefühle regen sich dabei in mir?
- Habe ich schon einmal Erfahrungen gemacht (z.B. durch Ehrenamt, Praktika) in „fremden“ Lebenswelten? Wie ist es mir ergangen?
- Wo spüre ich Neugier, auf Fremde / Fremdes zuzugehen? Was könnte der erste kleine Schritt sein? Wer könnte mich ggf. dabei unterstützen?
Während ich dies schreibe, sind die Sternsinger unterwegs mit ihrem Segenswort 20✷C+M+B+19. Christus Mansionem Benedicat - Christus segne dieses Haus. Das gilt genauso und erst recht für jede Justizvollzugsanstalt. Ich freue mich jedenfalls, dass das hessische Justizministerium diesen Kalender mit den allesamt ästhetischen Fotografien herausgegeben hat. Und während August Macke wieder auf „Januar“ steht, soll auch die Lebenswelt „hinter Gittern“ auf diese Weise im neuen Jahr in meinem Alltag einen Platz bekommen. Wo sind Hammer und Nägel?
Herzlich grüße ich Sie mit den allerbeten Wünschen für 2019
Marlies Fricke (GCL)
09. Januar 2019
Im bedürftigen Nächsten können wir Gott sehen oder übersehen. Er selbst will uns die Augen öffnen, wenn wir ehrlich nach dem Wann und Wo fragen. - Fragen wir IHN!

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„… und ihr habt mich besucht.“
Matthäus 25,31-46
31 Wenn der Menschensohn in seiner Herrlichkeit kommt und alle Engel mit ihm, dann wird er sich auf den Thron seiner Herrlichkeit setzen. 32 Und alle Völker werden vor ihm versammelt werden und er wird sie voneinander scheiden, wie der Hirt die Schafe von den Böcken scheidet. 33 Er wird die Schafe zu seiner Rechten stellen, die Böcke aber zur Linken. 34 Dann wird der König denen zu seiner Rechten sagen: Kommt her, die ihr von meinem Vater gesegnet seid, empfangt das Reich als Erbe, das seit der Erschaffung der Welt für euch bestimmt ist! 35 Denn ich war hungrig und ihr habt mir zu essen gegeben; ich war durstig und ihr habt mir zu trinken gegeben; ich war fremd und ihr habt mich aufgenommen; 36 ich war nackt und ihr habt mir Kleidung gegeben; ich war krank und ihr habt mich besucht; ich war im Gefängnis und ihr seid zu mir gekommen. 37 Dann werden ihm die Gerechten antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und dir zu essen gegeben oder durstig und dir zu trinken gegeben? 38 Und wann haben wir dich fremd gesehen und aufgenommen oder nackt und dir Kleidung gegeben? 39 Und wann haben wir dich krank oder im Gefängnis gesehen und sind zu dir gekommen? 40 Darauf wird der König ihnen antworten: Amen, ich sage euch: Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan. 41 Dann wird er zu denen auf der Linken sagen: Geht weg von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das für den Teufel und seine Engel bestimmt ist! 42 Denn ich war hungrig und ihr habt mir nichts zu essen gegeben; ich war durstig und ihr habt mir nichts zu trinken gegeben; 43 ich war fremd und ihr habt mich nicht aufgenommen; ich war nackt und ihr habt mir keine Kleidung gegeben; ich war krank und im Gefängnis und ihr habt mich nicht besucht. 44 Dann werden auch sie antworten: Herr, wann haben wir dich hungrig oder durstig oder fremd oder nackt oder krank oder im Gefängnis gesehen und haben dir nicht geholfen? 45 Darauf wird er ihnen antworten: Amen, ich sage euch: Was ihr für einen dieser Geringsten nicht getan habt, das habt ihr auch mir nicht getan. 46 Und diese werden weggehen zur ewigen Strafe, die Gerechten aber zum ewigen Leben.