
Foto: Андрей Романенко - CC BY-SA 3.0
Öfter mal lasse ich die Flügel hängen. Ich spüre besonders stark die Anziehungskraft der Erde: „Dem Gesetz des Falles gehorcht auf Erden alles“ (E. Kästner). Kräfte lassen nach. Unlust greift um sich. Ich sitze einfach nur so da. Typisch für das Alter. Aber manchmal werden mir auch Flügel verliehen. Da springt mich ein Gedanke an, ein Gefühl, ein Impuls. Dann muss ich sofort loslegen, losrennen, anfangen. Kennen Sie das auch? Selten, aber es geschieht. Und da fühle ich dann neue Lebendigkeit, Freude, Schaffenskraft. Ich fühle mich beflügelt, leicht und beschwingt. Das ist natürlich Kindern und Jugendlichen am besten vertraut. Sie spüren das und fühlen das. Wunderbar. Es landet aber dann öfter leider gleich wieder im Papierkorb. War wohl nix. Und dann hängen sie wieder runter die Flügel.
Ich meine hier aber noch etwas anderes. „Flügel verleihen“ in einem anderen Sinne. Ich möchte Sie aufmerksam machen auf das „Global Angel Wing Project“ von Colette Miller. Vielleicht kennen Sie es ja längst. Nur ich bin wieder zu spät dran. Diese Aktionskünstlerin hat 2012 damit begonnen, Engelflügel auf ein altes Garagentor zu malen. Das wurde ein beliebtes Fotomotiv. Menschen haben sich zwischen die Flügel gestellt und als Engel fotografieren lassen. Sieht super aus. Und natürlich sofort verschicken: Hier schau mal: ich als Engel. Das können Sie bei dem Link oben vielfach sehen.
Und das hat sich inzwischen weltweit verbreitet. Nicht nur als Fotomotiv. Das natürlich zuerst. Sondern inzwischen als Motiv im Sinne von Beweggrund, ein Engel für andere, für die Welt und ihre Erhaltung zu sein. Und das war auch die ursprüngliche Idee von Colette Miller, in Los Angeles, der Stadt der Engel, wo sie lebt, die Engel präsent zu machen. Und die Menschen einzuladen, einander nicht als Teufel sondern als Engel zu begegnen.
Das ist doch großartig. Und es passt auch gut zum Beginn des Jahres 2021. Wie gern möchte ich ein Engel sein. Flügel haben, die ich über meine Lieben breite, durch die ich sie schützen kann. Engel sein. Schutzengel sein. Und so finden sich jetzt diese und ähnliche Engelflügel überall auf der Welt. Die Vereinten Nationen haben sich eine Marketing Firma geholt, um mit solchen Engelflügeln auf ihre 17 weltweiten Ziele für die Zukunft der Welt hinzuweisen, dafür zu werben und Menschen dafür zu gewinnen. Sie können sich mit Flügeln fotografieren lassen, auf denen diese Ziele zu erkennen sind.
Auch die Stadt Ingolstadt hat sich die Flügel verliehen. Sie hat nach Rücksprache mit Colette Miller ihre jugendlichen Graffiti-Sprayer eingeladen, so ein Engel-Flügel-Paar an die Wand zu sprayen, und zwar als Einladung für mehr Mitmenschlichkeit und Solidarität, gegen Diskriminierung und rassistischen Hass. Hier kann man das Flügelpaar sehen. Und als letztes Beispiel: auch am Dom von Essen hängt ein solches Flügelpaar, mit dem man sich fotografieren lassen und unter # Schutzengel in den sozialen Netzwerken posten kann.
Freilich kann man das Ganze auch kritisch sehen: ‚Es geht doch nur um so ein tolles Bild, das überrascht und was her macht und das man möglichst vielen Leuten schicken kann!‘ ‚Typisch für unsere Zeiten, in den man sich selbst möglichst gut und geschickt vermarkten will und muss!‘ Ja, natürlich gibt es dieses fragwürdige Motiv. Ja, und das gehört nach meiner Ansicht unmittelbar zum Erfolg dazu. Und ich sehe das nicht als so schlimm an. Wirklichen Massen-Erfolg haben Sie (auch in der Kirche und jeder Gemeinschaft) nur dann, wenn sie hohe und niedrige Motive miteinander verbinden können. Wenn ich also zum Beispiel nicht nur das gute Gefühl habe, mich für ein hohes Ziel einzusetzen, sondern dabei auch noch toll aussehe. Das hat Colette Miller so nicht planen und voraussetzen können, aber es kam so. Und es hat so einen weltweiten Erfolg, weil es beides verbindet. Und ich meine, wenn tatsächlich nur ein wenig von den positiven Anliegen damit weitergegeben wird und lebendig bleibt, dann ist das doch viel besser als das Gegenteil.
Also Flügel hoch und nicht gleich wieder hängen lassen!
Es grüßt Sie herzlich – und bleiben Sie gut behütet von Ihrem Schutzengel!
Thomas Gertler SJ
20. Januar 2021
Ich konnte nicht widerstehen, hier zwei der kitschigsten und verbreitetsten Bilder von Schutzengeln einzufügen, die es gibt. Das sind so genannte Ofenrohrbilder. In kleinen engen Wohnungen wurde vor 100 Jahren im Sommer der Ofen entfernt. Über das Loch in der Wand, wo das Ofenrohr durch ging, hängte man ein solches Bild. Es war auch als Schlafzimmerbild sehr beliebt. Diese Bilder waren mal so erfolgreich, wie es die reinen Flügelbilder von Colette Miller heute sind. Sie sprachen die Sehnsucht der einfachen Leute im 19. und am Beginn des 20. Jahrhunderts an. Fridolin Leiber (1843-1912) hat sie gemalt und massenhaft verbreitet. Vielleicht haben Sie sie noch gekannt?
Und danach dann der bekannteste Schutzengelpsalm der Bibel, der Psalm 91.
Psalm 91
91,1 Wer im Schutz des Höchsten wohnt, der ruht im Schatten des Allmächtigen. 2 Ich sage zum HERRN: Du meine Zuflucht und meine Burg, mein Gott, auf den ich vertraue. 3 Denn er rettet dich aus der Schlinge des Jägers und aus der Pest des Verderbens. 4 Er beschirmt dich mit seinen Flügeln, unter seinen Schwingen findest du Zuflucht, Schild und Schutz ist seine Treue. 5 Du brauchst dich vor dem Schrecken der Nacht nicht zu fürchten, noch vor dem Pfeil, der am Tag dahinfliegt, 6 nicht vor der Pest, die im Finstern schleicht, vor der Seuche, die wütet am Mittag. 7 Fallen auch tausend an deiner Seite, dir zur Rechten zehnmal tausend, so wird es dich nicht treffen. 8 Mit deinen Augen wirst du es schauen, wirst sehen, wie den Frevlern vergolten wird. 9 Ja, du, HERR, bist meine Zuflucht. Den Höchsten hast du zu deinem Schutz gemacht. 10 Dir begegnet kein Unheil, deinem Zelt naht keine Plage. 11 Denn er befiehlt seinen Engeln, dich zu behüten auf all deinen Wegen. 12 Sie tragen dich auf Händen, damit dein Fuß nicht an einen Stein stößt; 13 du schreitest über Löwen und Nattern, trittst auf junge Löwen und Drachen. 14 Weil er an mir hängt, will ich ihn retten. Ich will ihn schützen, denn er kennt meinen Namen. 15 Ruft er zu mir, gebe ich ihm Antwort. In der Bedrängnis bin ich bei ihm, ich reiße ihn heraus und bring ihn zu Ehren. 16 Ich sättige ihn mit langem Leben, mein Heil lass ich ihn schauen.