
Foto: Conrado Secassi - CC BY-SA 4.0
Ja, noch ein drittes Mal zwei Zeilen aus dem „Rezept“ von Mascha Kaleko. Zwei anscheinend völlig verschiedene Themen: Erwartungen und mein Geheimnis. Aber zusammengebunden durch die Umstände, durch die Verhältnisse, nämlich durch die Änderung aller Lebensumstände. Das kann Flucht oder Krieg oder auch Umzug und Verarmung, Trennung, Scheidung, Auszug und Neuanfang anderswo sein. Alles das bringt diese beiden Themen zusammen: Erwartung und Geheimnis.
Was erwarte ich? Was erwartet mich? Unweigerlich mache ich mir Vorstellungen. Und es hilft, sich seine Erwartungen bewusst zu machen. Das aber ist nicht leicht. Wie oft werde ich mir meiner eigenen Erwartungen erst bewusst, wenn sie am neuen Ort enttäuscht werden. Ich hatte es mir anders vorgestellt, aber nun ist es ganz anders. Das war mir aber gar nicht bewusst. Weil das so oft so ist, ist es grundsätzlich gut, keine Erwartungen zu haben. Aber geht das? Erwartungen und Vorstellungen habe ich unweigerlich. Sie stellen sich von selbst ein. Ich denke mir etwas über den neuen Ort, an den ich komme. Ich stelle mir die Menschen vor, die mich jetzt umgeben werden. Aber die Frage ist, wie unumstößlich diese Erwartungen sind, wie fest meine Vorstellungen, wie heftig meine Vorurteile. Je beweglicher, je freier, je indifferenter ich bin, umso leichter werde ich mich einfinden, zurechtfinden und ankommen. Um so weniger werde ich verletzt oder enttäuscht und um so weniger werde ich mich zurückziehen.
Aber dass ich so frei von festen Vorstellungen bin, bedeutet noch lange nicht, dass ich mich selbst unter veränderten Umständen völlig aufgebe und nichts mehr bleibt vom bisherigen Ich. Dieses Gefühl haben wir ja zuweilen: ich bin tatsächlich nur das, was Marx über den Menschen sagt: nämlich nichts weiter als „das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“ (Thesen über Feuerbach 6). Ändern sich die Umstände, ändert sich der Mensch. Das erlebe ich beim Umzug in neue Verhältnisse. Das kann zu tiefer Verunsicherung gegenüber mir selbst führen. Habe ich denn gar keinen Charakter? Seit ich in dieser neuen Clique bin, seit ich an der neuen Stelle bin, haben sich alle meine Ansichten geändert… Was ist das mit mir?
Und damit sind wir an dem zweiten Punkt von Maschas Rezept: hüte besorgt dein Geheimnis. Mein Geheimnis ist mein Innerstes, mein Verletzlichstes, das am meisten Schützenswerte. Es ist auch das, was mich ausmacht. Was ich nur mit dem Allernächsten teile, was ich keinesfalls jedem auf die Nase binde. Was ich für mich behalte: dieses Geheimnis meiner Person. Das soll mit mir gehen durch alle Veränderungen hindurch. Denn es macht mich aus.
Und dieses Geheimnis, dieses Innerste meiner Person, das ist eben nicht so, dass ich es einfach so benennen könnte wie eine Formel: Ich bin ein Choleriker oder ich bin eine Melancholikerin. Ich bin im Neunerschema des Enneagramms eine Acht oder eine Zwei, und zwar ganz typisch. Nein, so ist es nicht mit meinem Geheimnis. Als Innerstes der Person ist es auch mir selbst nicht komplett erkennbar und benennbar. Es ist mir guten Teils entzogen. So wie auch das Innerste und das Geheimnis meines liebsten Nebenmenschen nicht komplett auf eine Formel gebracht werden kann – und darf!
Ich zerstöre meine Beziehung zum liebsten Menschen, wenn ich ihn oder sie auf eine Formel bringe: Du bist nichts weiter als … Und dann kommt meist ein ganz schlimmes Wort. Dann ist die Beziehung am Ende. Und das gilt auch für die Beziehung zu sich selbst. Zu meinem Innersten, zu meinem Geheimnis. Darum muss dieses Geheimnis behütet werden, beschützt werden, heilig gehalten werden. Ich soll dieses innerste Geheimnis nicht verachten und nicht verraten, nein, ich soll es hüten, bewahren, schützen und achten. Und ich soll wissen, tiefer noch als dieses Geheimnis meiner selbst, wohnt das Geheimnis Gottes in mir.
Liebe Leserinnen, liebe Leser, hüten Sie Ihr Geheimnis! Herzlich grüße ich Sie!
Thomas Gertler SJ
22. Juni 2022
Am besten scheint mir als Schriftstelle zu passen, was die Bibel das Bilderverbot in den Zehn Geboten nennt, nämlich dass wir uns kein Bild von Gott machen sollen. Damit ist zuerst eine Statue oder ein gemaltes Bild gemeint, aber dann auch gewissermaßen eine Formel oder ein Begriff von Gott, mit denen ER handhabbar gemacht werden kann. Gott will und soll Geheimnis bleiben. Und das gilt auch für uns selbst und unser Geheimnis. Darüber hat Max Frisch einen berühmten Text geschrieben.

Foto: Ji-Elle - CC BY-SA 3.0
Exodus 20,4 - 5
20,4 Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen, weder von dem, was oben im Himmel, noch von dem, was unten auf Erden, noch von dem, was im Wasser unter der Erde ist: 5 Bete sie nicht an und diene ihnen nicht! Denn ich, der HERR, dein Gott, bin ein eifernder Gott.