Erinnerung

Foto: Thomas Gertler

Jetzt habe ich einmal wieder in einem meiner alten Fotoalben geblättert. Oben die beiden Bilder sind vom abenteuerlichsten Urlaub meines Lebens 1988 ins rumänische Făgăraș-Gebirge. Wir waren dort in ein lebensgefährliches Gewitter gekommen, das von abends sechs bis morgens sechs dauerte. Mein Zelt war klein und nicht richtig dicht. Zu dritt lagen wir darin. Ab Mitternacht war ich klatschnass. In der Nacht gegen zwei stürzten Muren – Lawinen aus Schlamm und Steinen und Bäumen – zu Tal, schneller und zerstörerischer als Schneelawinen. Auch 30 Meter von unserem Lager entfernt kam eine runter. Gott sei Dank haben wir alle überlebt.

Ja, all das Erlebte, die vielen Begegnungen (auch mit Hirten, Hunden und Bären) und die Freundschaften in einer rumänischen Kirchenburg von damals in dem notleidenden Land wurden wieder lebendig als ich das Album anschaute. Was wohl aus all den damaligen Mitwanderern geworden ist? Ich weiß es nur bei ganz wenigen.

Wann haben Sie zuletzt einmal alte Bilder angeschaut?

Erinnern ist so wichtig und das tun wir ja oft und gern. Oder? Nach Erich Kästner gibt es zwei Weisen sich zu erinnern:

In memoriam memoriae

Die Erinnerung ist eine mysteriöse
Macht und bildet den Menschen um.
Wer das, was schön war, vergisst, wird böse.
Wer das, was schlimm war, vergisst, wird dumm.

Die nur das Gute erinnern, werden dumm. Die nur das Böse erinnern, werden böse. Schlimm, wenn das allein unser Schicksal wäre, entweder dumm oder böse zu werden. Es ist also wichtig beides zu erinnern und nicht zu vergessen. Das Schöne, aber auch das Schwere und Schlimme. Ja, es genügt auch nicht beides einfach nur zu erinnern, sondern auch zu verinnerlichen. Das steckt im Erinnern mit drin: das Bedenken, Nachsinnen, Verstehen, neu Anschauen. Und viele Ereignisse brauchen lange, um überhaupt bei mir anzukommen, von mir recht verstanden und angenommen zu werden. Und so wandeln sich manche Erfahrungen von ganz furchtbar zu sehr wichtig und lehrreich und verändernd und am Ende gar in Gnade.

Man kann sagen, dass das ganze Christentum (und auch das Judentum) vor allem aus Erinnern besteht („Erinnern führt in die Erlösung – Vergessen führt in Verbannung“, ist ein jüdisches Sprichwort). Fast alle Feste des Kirchenjahres sind Erinnerungen an Ereignisse. Das bedeutet aber nicht ein Zurückgehen in die Vergangenheit, nein, im Gegenteil, bei diesem Erinnern werden die Geschehnisse wieder präsent. Das glauben wir: wenn wir vom Pfingstfest in der Apostelgeschichte lesen, dann wird gegenwärtig, was damals geschah. Wir tauchen ein in dieses Geschehen. Und der Geist ist da und möchte auch uns ergreifen und verwandeln und erneuern, wenn wir es lesen, hören und verinnerlichen.

Wir Erwachsene sind ja oft schon sehr abgeklärt und in manchem auch abgebrüht, aber wenn Kinder diese Geschichte zum ersten Mal hören, dann sind sie ganz darin. Dann hören sie das Brausen des Sturms und spüren die Flämmchen über dem Kopf. Dann sehen sie die Freude und lachen mit. Das sehe ich vor mir in den staunenden und miterlebenden Augen der Kinder. Aber das kann auch heute in glaubenden Gemeinschaften ganz intensiv erfahren werden: Freude, Verstehen, verwandelt Werden, neu Sehen, begeistert Sein. Also dieses Erinnern und Verinnerlichen im biblischen Sinne macht uns gut und froh, nicht böse und dumm. Es macht uns darüber hinaus dankbar. Denn Gottes Geist verwandelt immer wieder das traurige Antlitz der Erde.

Erinnern ist eine Weise, mit der Zeit umzugehen, und zwar eine grundlegende. Es ist so gut, im Glauben zu wissen, dass in der Memoria, im Gedenken und Gedächtnis Gottes des Vaters alles bewahrt und aufgehoben ist. Dadurch bleibt es, auch wenn ich es längst vergessen habe. Dieses liebende Gedenken Gottes hält alle unsere Wirklichkeit zusammen und bewahrt sie vor dem Nichts. Darüber lohnt es nachzudenken oder das lohnt es zu memorieren. Wir werden in den folgenden Impulsen auch noch die anderen Zeitdimensionen unseres Lebens bedenken.

Eine gute Zeit, eine gute Zeit mit dem Heiligen Geistes wünscht Ihnen

Thomas Gertler SJ

03. Juni 2020

 

Bei Martin Buber in den „Erzählungen der Chassidim“ findet man folgende Geschichte darüber, wie man Geschichten erzählen soll, oder wie es oben gesagt ist, wie wir Vergangenes im Erzählen gegenwärtig werden lassen. So werden die biblischen Geschichten heilsame Erinnerungen.

Foto: travelwayoflife - CC BY-SA 2.0

 

„Mein Großvater war lahm. Einmal bat man ihn, eine Geschichte von seinem Lehrer zu erzählen. Da erzählte er, wie der heilige Baalschem beim Beten zu hüpfen und zu tanzen pflegte. Mein Großvater … erzählte, und die Erzählung riss ihn so hin, dass er hüpfend und tanzend zeigen musste, wie der Meister es gemacht hatte. Von der Stunde an war er geheilt. So soll man Geschichten erzählen.“