
Foto: Google - CC BY-SA 4.0
Als Albert Einstein begann, Physik zu studieren, riet man ihm dringend davon ab. Seit Newton sei da fast nichts Neues passiert. Physik ist ein abgeschlossenes Fach. Physik ist langweilig. Weil im Grunde schon alles bekannt und gelöst ist. Es gibt nur noch ein paar Randfragen. Einstein studierte dennoch und hat zusammen mit anderen jungen Wissenschaftlern wie Max Planck die ganze Physik durcheinander gewirbelt.
Seit Newton galten beispielsweise Raum und Zeit als absolute Größen und als unabhängig voneinander. Einstein zeigte die Relativität von Zeit und Raum mit seiner berühmten Relativitätstheorie. Das war gegen alle hergebrachte Überzeugung und gerade die Besten der bisherigen Newtonschen Wissenschaftstradition widersprachen am heftigsten. Sie kannten sich am besten aus und hatten die meiste Erfahrung. Darum machte gerade ihre reiche Erfahrung sie dumm.
Nein, um Himmels willen, Erfahrung macht doch nicht dumm. Sie macht doch klug. Sie macht doch weise. So sagt es unsere Spruchweisheit. Aber mein verehrter, leider schon verstorbener Mitbruder und Philosoph Pater Albert Keller (und nicht Albert Einstein!) stellte gerade diesen Satz auf: „Erfahrung macht dumm.“ So ein Satz macht stutzig und reizt auch zum Widerspruch. Gerade darauf kam es Albert Keller an. Stutzig machen, staunen machen, widersprechen, neu anschauen. Weg von dem, was wir schon so sicher und völlig klar zu wissen und aus Erfahrung zu kennen glauben. Das ist die große Kunst der guten Philosophie. Das was allen schon so klar ist, was sie schon zu wissen meinen, neu befragen. Das war die Kunst des Sokrates. Das Selbstverständliche hinterfragen So lange fragen, bis die Gewissheiten ungewiss werden.
„Ich weiß, dass ich nichts weiß“, war der Satz des Sokrates. Und verstanden haben wir ihn erst, wenn wir ihn richtig betonen. Indem wir nämlich darauf den Ton legen, dass im Unterschied zu seinen Kontrahenten Sokrates weiß, also verstanden hat und geistig durchdrungen hat, dass er nichts weiß. Der andere hat gar noch nicht kapiert, dass er nichts weiß, weil er gar nicht durchdacht hat, was er so sicher schon zu wissen meinte. Sokrates mit seinen Fragen bringt ihm das erst zu Bewusstsein.
Und das Witzige und Widersprüchliche ist, dass gerade die Gelehrtesten und Gebildetsten, nämlich unsere Professoren hier in der größten Gefahr sind, zu denen zu gehören, die ihr eigenes Wissen und ihre eigene Erfahrung dumm macht. Oder blind macht. Oder unbelehrbar macht. Ihr Wissenssystem ist nämlich oft durch jahrzehntelange Forschung so imponierend logisch und vollständig, dass da nichts grundsätzlich Neues mehr dazu kommen kann. So ein System hat dann auf alles eine Antwort und die ist auch immer beachtenswert und imponierend, aber es lernt eben nichts mehr dazu wie zu Einsteins Zeiten. Ein in sich geschlossenes, ein in sich abgeschlossenes System.
Als Papst Johannes XXIII., hier ein Bild von ihm, im Jahr 1959 die völlig überraschende Idee hatte, ein Konzil einzuberufen, haben die Theologen und Kardinäle um ihn herum gesagt. Lieber Heiliger Vater, was soll denn ein Konzil? Es ist doch alles klar in der Theologie und der Lehre der Kirche und seitdem Du als Papst unfehlbar bist, kannst Du doch sowie alles allein entscheiden. Es gibt nur noch ein paar Randfragen in der Lehre über Maria, aber sonst ist alles gelöst. Es gibt keine Fragen und Probleme. Amen. Mit den Fragen und Problemen, die dann das II. Vatikanischen Konzil aufgebracht hat, sind wir heute noch nicht zu Ende.
Erfahrung macht dumm. Jedenfalls dann wenn sie gegenüber einem neuen Denken und frischen Fragen verschließt. Darum dürfen wir auch kritisch und vorsichtig gegenüber unseren eigenen Erfahrungen sein. Auch was unsere Glaubenserfahrungen betrifft. Dafür ist gerade Jesus mit seiner Heimatstadt Nazareth ein gutes Beispiel, wie wir gleich sehen können.
Viele Grüße
Thomas Gertler SJ
14. Juli 2021
Die Mitbürger in Nazareth meinen Jesus schon genau zu kennen: Das ist der Sohn unseres Zimmermanns Josef. Kennen wir. Die ganze Familie kennen wir und zwar lange und ausführlich. Der ist einer von uns und nichts Besseres oder Besonderes. So wie den Mitbürgern von Nazareth kann es auch uns mit Jesus und mit dem Glauben gehen. Kennen wir alles schon, und zwar schon lange. Und das ist ja auch richtig. Kennen wir schon. Dann aber macht auch uns unsere Erfahrung dumm. Und selbst Jesus gelingt es in dieser Geschichte nicht, diese Beschränktheit zu öffnen oder aufzubrechen. Das tut weh.

Nazareth heute
Foto: אוסאמה דאמוני - CC BY 2.5
Markus 6,1 - 5
Mk 6,1 Von dort brach Jesus auf und kam in seine Heimatstadt; seine Jünger folgten ihm nach. 2 Am Sabbat lehrte er in der Synagoge. Und die vielen Menschen, die ihm zuhörten, gerieten außer sich vor Staunen und sagten: Woher hat er das alles? Was ist das für eine Weisheit, die ihm gegeben ist! Und was sind das für Machttaten, die durch ihn geschehen! 3 Ist das nicht der Zimmermann, der Sohn der Maria und der Bruder von Jakobus, Joses, Judas und Simon? Leben nicht seine Schwestern hier unter uns? Und sie nahmen Anstoß an ihm. 4 Da sagte Jesus zu ihnen: Nirgends ist ein Prophet ohne Ansehen außer in seiner Heimat, bei seinen Verwandten und in seiner Familie. 5 Und er konnte dort keine Machttat tun; nur einigen Kranken legte er die Hände auf und heilte sie.