Immer wieder fällt mir auf, dass so vieles gar nicht bekannt oder bewusst ist über die friedliche Revolution. Ein paar wenige Dinge will ich hier sagen. Zu allem ließen sich lange Seiten schreiben.
Es gab mal den bösen Spruch: „Die evangelische Kirche hat die Revolution gemacht und die Katholiken haben die Macht ergriffen.“ Das bezog sich auf den Ablauf der friedlichen Revolution und die Ergebnisse der Wahlen, die viele Katholiken in den protestantischen Kernlanden an die Macht brachten. Also dazu ein paar Bemerkungen.
Die evangelische Kirche hat nicht die Revolution gemacht, aber sie hat zum Glück dem Protest Raum gegeben in ihren Kirchen (und da waren dann auch immer mehr katholische Kirchen dabei). Die Demonstrationen begannen mit den Friedensgebeten. Das hat sie friedlich, ja später sogar oft sehr souverän und humorvoll gemacht. Bei diesen Gebeten haben hunderttausende Nichtchristen mitgebetet. Und viele haben da auch wirklich gebetet, davon bin ich überzeugt, und sie haben damals auch Erfahrungen mit Gott gemacht. All das ist aber dann durch die vielen neuen Erfahrungen und Herausforderungen weggeweht worden. Das tut mir weh.
Bei den Demonstrationen (vor allem in Leipzig) muss man drei Phasen und damit verschiedene Ziele und Absichten der Demonstrierenden unterscheiden, die sich durch ihre Rufe erkennen lassen.
Auf die Straße (und vorher in die Kirche) gegangen sind zuerst die Menschen mit einem Ausreiseantrag. Warum? Weil sie eher raus kamen, wenn sie den DDR-Behörden so richtig Ärger gemacht haben. Also sind sie mit dem Mut der Verzweiflung auf die Straßen gegangen und riefen: „Wir wollen raus!“ Sie wollten keine Revolution. Sie wollten weg, weg, weg.
Die zweite Phase begann, als viele aus der ersten Phase über die letzte Chance – wie sie meinten – in den Westen kamen: über Ungarn, über die Prager Botschaft und über das Erstürmen des Bahnhofs in Dresden. Das war die eigentlich gefährliche Phase. Sie begann nach dem 3. Oktober und dauerte bis zum November. Da waren viele Christen dabei. Sie riefen: „Wir bleiben hier!“ und „Wir sind das Volk!“ Sie wollten ein anderes Land gestalten (gar nicht unbedingt die Einheit). Der Ruf „Wir sind das Volk!“ war vor allem an die Volkspolizei gerichtet, nämlich das Volk nicht zusammenzuknüppeln.
Die dritte Phase beginnt erst richtig nach dem 9. November, als es nicht mehr gefährlich war. Da kamen dann die Massen auf die Straßen, nicht nur in Leipzig und Dresden sondern überall im ganzen Land. Und da veränderte sich wieder der Ruf. „Wir sind ein Volk!“, hieß es nun und sollte heißen: Wir wollen die schnelle Einheit, die Westmark und wir wollen es innerhalb kürzester Zeit so haben, wie wir es im Westfernsehen sehen.
Warum war Leipzig der hervorragende Ort? Weil durch die Leipziger Messe dort immer die internationale Presse vertreten war. Was in Leipzig passierte, war abends in der Tagesschau. Was in Jena oder Dresden passierte, kam viel später oder nie.
Noch etwas ist weitgehend vergessen und wurde auch jetzt in der Berichterstattung kaum erwähnt. Durch die Revolution hindurchgeführt haben die runden Tische auf allen Ebenen. Sie haben das gesellschaftliche Gespräch ermöglicht und verhindert, dass es gewalttätig wurde. Moderiert wurden die runden Tische durch die beiden Kirchen. Sie waren damals die beiden einzigen staatsunabhängigen Organisationen in der DDR und sie genossen das Vertrauen aller Seiten. Wie ist das wohl heute mit diesem Vertrauen in die Kirchen?
„Die Katholiken haben die Macht ergriffen.“ Besonders perfide, weil eine Anspielung auf die Nazizeit, und sachlich falsch. Durch die freien (!) Wahlen ist von der Mehrheit der (nichtkirchlichen) Bevölkerung die CDU gewählt worden. Weil Helmut Kohl die schnelle Einheit und die blühenden Landschaften versprochen hat. Die Katholiken waren nur 5% der Bevölkerung. Also die Mehrheit konnte gar nicht von den Katholiken kommen. Dass es allerdings gute Führungsleute bei den Katholiken aus dem Osten gab, lag unter anderem auch an den Studentengemeinden, in denen schon Gesprächs- und Demokratiefähigkeit in den grauen DDR-Zeiten eingeübt wurde.
Das soll für heute reichen als kleine Erinnerung. Treu dem Wort: Vergessen führt in die Verbannung, das Geheimnis der Erlösung liegt in der Erinnerung! (Baal Schem Tow).
Es grüßt Sie herzlich
Thomas Gertler SJ
13. November 2019
Das war der Psalm, der unser Lied war während dieser so sehr bewegten Zeit. Wir haben ihn geliebt und wir lieben ihn noch heute und er lässt uns die Freude wieder spüren. Ich schreibe ihn hier in der Übersetzung von 1980.

Foto: Trish Steel - CC BY-SA 2.0
Psalm 126, 1- 6
126,1 [Ein Wallfahrtslied.] Als der Herr das Los der Gefangenschaft Zions wendete, / da waren wir alle wie Träumende.
2 Da war unser Mund voll Lachen / und unsere Zunge voll Jubel. Da sagte man unter den andern Völkern: / «Der Herr hat an ihnen Großes getan.»
3 Ja, Großes hat der Herr an uns getan. /Da waren wir fröhlich.
4 Wende doch, Herr, unser Geschick, / wie du versiegte Bäche wieder füllst im Südland.
5 Die mit Tränen säen, / werden mit Jubel ernten.
6 Sie gehen hin unter Tränen / und tragen den Samen zur Aussaat. Sie kommen wieder mit Jubel / und bringen ihre Garben ein.