„Ein neues Herz und ein neuer Geist“ –
Wie unsere Ideale sich verändern dürfen

Foto: Natubico - CC BY-SA 3.0

Jetzt schlagen sie wieder aus, die Kopfweiden, die wochenlang wie bizarre, knubbelige Skulpturen in der Landschaft gestanden haben.

Als ich elf Jahre alt war, hat mein Vater mir einen Weidenkorb mit Henkel geflochten. Ich war stolz und konnte kaum glauben, dass Äste so biegsam und geschmeidig sein können. Wie entsetzt war ich aber, als die Weide hinter dem Haus eines Wintertages völlig nackt dastand und nur noch ein kahlgeschorener Stamm war! War sie tot? Damals wusste ich noch nicht, dass so eine Kopfweide alle paar Jahre radikal beschnitten werden muss, damit Wurzel und Stamm ihre Kraft behalten.

Foto: Berlin-George - CC BY-SA 4.0

Als  klassische Uferpflanze ist die Kopfweide genügsam und anspruchsvoll zugleich. Der Psalmist besingt sie als eine Metapher für einen gottverbundenen Menschen, „der an Wasserbächen gepflanzt ist, der zur rechten Zeit seine Frucht bringt und dessen Blätter nicht welken“ (Psalm 1,3); der rechte Standort genügt, damit „alles, was er tut, ihm gelingen wird“. Aber die Kopfweide hat auch ihren Anspruch, sozusagen ihren eigenen Kopf: den nämlich muss sie regelmäßig hergeben, damit der Baum von der Wurzel bis zur Krone stabil bleibt. - Kein Ideal von einem stets wohlgeformten Gartenglück; eine Kopfweide ist keine immerwährende Augenweide!

Unsere Ideale: vom perfekten Garten, von der idealen Familie, von den idealen Arbeitskollegen, von der idealen Kirche, der idealen Pandemiebekämpfung, vom idealen Körpergewicht oder geistlichen Leben … - Sind sie denn in Stein gemeißelt? Nein, wir sollten unsere Erwartungen und Vorstellungen von Zeit zu Zeit überprüfen, bevor sie uns unnötig „Stress“ machen und einengen.

Das zeigt eine kleine Geschichte von einer älteren Frau, die zu einem geistlichen Begleiter kommt:

Foto: cottonbro von Pexels

Die Frau klagt, dass sie seit Jahren täglich eine Stunde lang das Jesusgebet praktiziere, aber dabei nie die Nähe Gottes erfahre. „Gute Frau“, sagt der Begleiter, „beten Sie ab heute das Jesusgebet nicht mehr. Ich rate Ihnen etwas anderes: Wenn Sie am Morgen Kaffee getrunken haben, räumen Sie Ihr Zimmer auf. Rücken Sie Ihren Sessel zurecht, so dass Sie in den Garten hinausschauen können. Und dann legen Sie Ihr Strickzeug bereit. Setzen Sie sich in den Sessel und schauen Sie im Zimmer umher. Freuen Sie sich daran, welch schönes Zimmer Sie haben. Dann schauen Sie in den Garten hinaus: alles blüht – freuen Sie sich darüber. Greifen Sie zum Strickzeug und fangen Sie an zu stricken. Stricken Sie eine Viertelstunde lang in der Gegenwart Gottes. Lassen Sie ihn dabei zuschauen. Mehr brauchen Sie nicht zu tun. Ja, ihn bloß beim Stricken zuschauen lassen. Jeden Tag, eine Viertelstunde lang.“ –

Nach einem halben Jahr kommt die Frau wieder und sagt: „Ich danke Ihnen! Was ich ein Leben lang vergebens gesucht habe, habe ich nun gefunden. Die Nähe Gottes!“

Manchmal kann die Lösung einfach sein, wohingegen Idealvorstellungen und Selbstansprüche unserer Entwicklung im Weg stehen können: ein Idealbild von mir selbst, von meinem Glauben und Beten, ja, sogar von einem habbaren Gott. Jemand hat einmal gesagt: „Wenn man glaubt, Ihn begriffen zu haben, kann es Gott nicht gewesen sein.“ Eine Viertelstunde Gott beim Stricken zuschauen lassen, mehr nicht. - Wir dürfen das entdecken und wählen, was uns mehr zum Leben und Glauben hilft.

Sich von langgepflegten Vorstellungen und Erwartungen zu verabschieden, kann schmerzlich und befreiend zugleich sein, egal ob das mit einem klaren Schnitt oder scheibchenweise geschieht. Im Glauben dürfen wir uns dabei gehalten wissen, so wie die Weiden am Ufer tief verwurzelt sind; nur so können sie ihre nackten Schnittstellen erwartungsvoll zum Frühlingshimmel strecken. „An Bruchstellen ereignen sich oft Anfänge eines jetzt erst möglichen Wachstumsprozesses“, so Georg Lauscher in seinem Büchlein Lebenskrisen und ihre Botschaften. Gerade an Schnitt- und Bruchstellen, wenn wir sie Ihm hinhalten, verheißt uns Gott „ein neues Herz und einen neuen Geist“ (Ezechiel 36,26).

Gerade haben wir Pfingsten gefeiert, das Fest des Heiligen Geistes, der der „Meister des Unmöglichen“ (Kard. Schönborn) ist. - Welche Schnittstellen will ich, wollen wir Ihm entgegenhalten, ganz persönlich, in der Kirche, in der Welt?

Übrigens, der Weidenkorb, den mein Vater mir geflochten hatte, stand damals etwas uneben und wackelig neben Mutters Einkaufskorb. Er war schließlich handgearbeitet und nicht vom Fließband. Leider besitze ich ihn nicht mehr. Er war nicht perfekt, aber er war der schönste Korb und weit und breit!

Herzlich grüßt Sie
Marlies Fricke (GCL)

26. Mai 2021

Die eigenen Ideale loszulassen, freiwillig oder unfreiwillig, erfordert oft Mut und Kraft. Was bleibt denn übrig? - Größer als alles, was wir verlieren oder erleiden können, ist Gottes Liebe und sein Bund mit uns.

Was kann uns scheiden von der Liebe Christi?
Foto: Pfarrbriefservice © Martin Manigatterer

Brief an die Römer 8, 31-39

31 Was sollen wir nun dazu sagen? Ist Gott für uns, wer ist dann gegen uns? 32 Er hat seinen eigenen Sohn nicht verschont, sondern ihn für uns alle hingegeben - wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken? 33 Wer kann die Auserwählten Gottes anklagen? Gott ist es, der gerecht macht. 34 Wer kann sie verurteilen? Christus Jesus, der gestorben ist, mehr noch: Der auferweckt worden ist, er sitzt zur Rechten Gottes und tritt für uns ein. 35 Was kann uns scheiden von der Liebe Christi?Bedrängnis oder Not oder Verfolgung, Hunger oder Kälte, Gefahr oder Schwert? 36 Wie geschrieben steht: Um deinetwillen sind wir den ganzen Tag dem Tod ausgesetzt; wir werden behandelt wie Schafe, die man zum Schlachten bestimmt hat. 37 Doch in alldem tragen wir einen glänzenden Sieg davon durch den, der uns geliebt hat. 38 Denn ich bin gewiss: Weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges noch Gewalten, 39 weder Höhe oder Tiefe noch irgendeine andere Kreatur können uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn.