Ein Brief zu Ostern

Foto: Thomas Gertler

Liebe Frau Scholz!

Vielen Dank für Ihren Brief und für Ihre Offenheit! Sie schreiben: „ich lernte, mich als sündhaften Menschen zu fühlen. Und das ist auch jetzt mein Kummer… Ich kann …  nicht an den liebenden Gott glauben.“ Liebe Frau Scholz, das geht nicht nur Ihnen so. Es geht vielen so. Es ist ein Thema, das jeden irgendwann betrifft, der sich auf dem Glaubensweg befindet. Darum schreibe ich diesen Brief nicht nur Ihnen. Ich schreibe ihn auch mir selbst und allen, denen es ähnlich geht.

Ich lernte, mich als sündhaften Menschen zu fühlen.“ An Ihrem Satz ist dreierlei für mich wichtig. Sie haben es erst gelernt. Es war nicht einfach immer so. Das ist das Erste. Es gab auch eine andere, eine unschuldige Zeit. Oder? Wie war die? Können Sie sich erinnern? Dann aber wurde es Ihnen gesagt und eingeprägt: Du bist eine Sünderin und Gott liebt dich darum nicht. Und das fühlen Sie bis jetzt so. Das ist das Zweite. Sie fühlen sich als verkommen und schlecht und verachten sich selbst. Das geht nicht weg. Sie fühlen es so und es bleibt so. Es bleibt so, obwohl Ihnen auch anderes gesagt wird, obwohl Sie auch anderes wissen. Sie schrieben ja früher schon einmal, dass Ihnen die Bibelstellen über die Liebe Gottes bekannt sind. Und das ist das Dritte. Sie wissen von dem liebenden Gott schon, aber sie fühlen es nicht. Das Gefühl sagt Ihnen weiterhin: du bist sündhaft. Der Verstand weiß anderes.

Also dadurch, dass Sie das andere wissen (das Erste und das Dritte), gibt es schon einen inneren Abstand zu dem Gefühl, ein sündiger und verachtenswerter Mensch zu sein. Es gibt einen Unterschied zwischen dem inneren Gefühl und dem Verstand und dem, was andere Glaubende Ihnen schon lange gesagt haben. Ist das so? Empfinden Sie den Unterschied? Sie wissen mit dem Kopf anderes, als Sie in Ihrem Inneren fühlen und Sie wissen, dass Sie das mit der Sünde erst gelernt haben. Für mich steckt das in Ihrem Satz mit drin. Es kann sein, dass es Ihnen jetzt erst bewusst wird, dass es diesen Unterschied gibt. Gespürt haben Sie das schon, aber es ist nicht richtig bewusst gewesen und Sie haben noch nicht richtig darüber nachgedacht. Dass also das Gefühl heftiger und mächtiger ist, als es dem Verstand oder dem Wissen entspricht, das Ihnen sagt, dass Gott ein liebender Gott ist. Da gibt es etwas Unstimmiges, etwas Falsches, etwas Übertriebenes. Das spüren Sie. Wie werden Sie das los?

Ich kann einfach sagen, das stimmt nicht. Das Gefühl ist falsch oder unangemessen. Das hilft aber meist nicht. Das Gefühl bleibt und zieht mich runter. Das erleben Sie. Im Grunde Ihres Herzens wissen Sie, dass es falsch und übertrieben ist, aber es stellt sich immer wieder ein, was Sie gelernt haben und Sie fühlen sich weiter als sündhaften Menschen. Wie also anders damit umgehen?

Mein Vorschlag sind zwei Schritte. Erster Schritt: Das Wahre am Falschen anschauen, ernst nehmen und annehmen. Ja, es ist leider auch wahr, dass ich ein sündhafter und schuldiger Mensch bin. Das stimmt ja leider auch (eben auch bei mir, dem Briefschreiber) und es macht mich kaputt. Alles Böse hat genau diese Absicht und Wirkung. Es will mich und es will die Welt zerstören. Das merke ich in der einen oder anderen Weise an mir, an meinem Leben und an dem Leben anderer und das erfahre ich täglich in den Nachrichten. Das Böse gibt es und es zerstört und endet im Nichts und im Aus. Da will es hin. Und das betrifft nicht nur mich. Es infiziert wie der Virus die ganze Welt. Ja, es ist eine Wirklichkeit und sie wirkt. Das ist wahr. Das ist Ihre und meine Erfahrung. Diese Erfahrung und Wirklichkeit ist aber nicht alles.

Darum jetzt der zweite Schritt: Das Böse wirkt und ist da. Ja, und es will mich ins Aus führen und macht das schon. Aber es gibt auch andere Erfahrungen in meinem Leben. Dieses Böse hat nämlich sein Ziel erstaunlicherweise noch nicht erreicht. Nein, vieles in meinem Leben ist dennoch gut gegangen. Es hat sich trotzdem gefügt und ich bin durchgekommen und es gibt noch Gutes und Schönes, an dem ich mich freuen kann und mit dem andere mich froh machen wollen und es zuweilen auch schaffen. Es gibt also trotz des Bösen auch eine andere Wirklichkeit. Es gibt auch Kräfte, die mir helfen, die mich tragen, die mich vor dem Schlimmsten bewahren. Und diese Wirklichkeit will ich heute und jetzt ganz bewusst anschauen und ernst nehmen. Das ist dieser zweite Schritt. Ich will diese positiven Erfahrungen nicht runtermachen und kleinreden und verderben. Nein, so wie ich das Böse und Schlimme sehe und wahrnehme und ernst nehme, so will ich heute auch einmal das Gute, das Schöne, das Heile, das Liebevolle wahrnehmen und ernst nehmen. Es ist genauso wahr und wirklich wie das Böse. Ja, es ist sogar immer stärker und mächtiger als das Schlimme und Böse. Denn es ist ja positiv. Es trägt ja zum Leben, zur Freude, zum Licht bei und nicht zum Dunklen, Negativen und zum Tod. Es zerstört nicht, sondern es baut auf.

Und hinter dem Positiven, Schönen, Gelingenden, Erfreuenden und Liebevollen da ist immer Gottes Liebe dahinter, die das für mich will, die es trägt, fördert und unterstützt, ja, ermöglicht. Denn die Liebe Gottes kommt zu mir durch die Liebe der Menschen, aber auch meines Hundes oder meiner süßen Katze oder durch die wunderschönen Tulpen im Garten oder durch die Sonne, die mir auf die Haut scheint und mich wärmt. Durch alle diese alltäglichen, aber lebenswichtigen Erfahrungen kommt auch Gottes Liebe zu mir. Das sind jetzt nicht einfach nur Behauptungen und Belehrungen, nein, das sind Tatsachen. Das sind Wirklichkeiten in meinem Leben. Bauen Sie darauf, vertrauen Sie darauf! Es gibt diese Erfahrungen, diese Wirklichkeiten und sie wirken. Ich will sie heute sehen, ernst nehmen, ihnen glauben, mich darauf verlassen, dass mir in diesen Erfahrungen Gott selbst seine Liebe zeigen will: Ja, Du bist ein liebenswerter Mensch und ich habe dich lieb und ich zeige es dir.

Und diesen zweiten Schritt, den bewussten Blick auf das Positive, das Gelingende, das Heile, das Liebevolle, den soll ich täglich tun. Und legen Sie sich ein goldenes Buch an. Da schreiben Sie jeden Tag eine gute Erfahrung, etwas Schönes, etwas Goldenes hinein. Schauen Sie auf den ganzen Tag vom Marmeladenbrötchen am Morgen bis zum lustigen kleinen Video, das mir meine Freundin geschickt hat. Eines sehe ich und eines schreibe ich hinein. Es gibt wirklich das Gute und Schöne und Liebevolle und darin kommt Gottes Liebe zu Ihnen, ja, zu Ihnen, liebe Frau Scholz!

Viele Grüße und Gottes Segen auf dem Weg
Thomas Gertler SJ

28. April 2021

Zu diesem Brief, der tatsächlich in etwa so geschrieben wurde, aber natürlich einen anderen Adressaten als Frau Scholz hatte, passt für mich sehr gut ein ziemlich bekannter Text von Bischof Hemmerle. Er wünscht uns Osteraugen. Augen die tiefer sehen und weiter blicken als auf Leid, Not und Tod. Mögen sie uns geschenkt werden!

 

Ich wünsche uns Osteraugen,
die im Tod bis zum Leben,
in der Schuld bis zur Vergebung,
in der Trennung bis zur Einheit,
in den Wunden bis zur Herrlichkeit,
im Menschen bis zu Gott,
in Gott bis zum Menschen,
im Ich bis zum Du
zu sehen vermögen.

Klaus Hemmerle
aus: Ders., Hirtenbriefe, Hrsg. von Karlheinz Collas, Aachen 1994, S. 113. In: Pfarrbriefservice.de