Dieser verwundbare Mensch

Foto: FischX - CC BY-SA 3.0

„Mensch ärgere dich nicht“ – leichter gesagt als getan, wenn jemand mitten im Spiel mit seinen vier Figuren plötzlich wieder auf dem Startfeld steht. Auch wenn das Spiel damit nicht zu Ende ist, für den betreffenden Mitspieler beginnt es wieder bei Null; alles vorher Erreichte zählt nicht mehr.

„Unversehens stand ich als völlig bloßer Mensch da. Ich hatte fast den Eindruck, ich müsse mit meinem Leben ganz von vorne anfangen. Alle meine Beziehungen, alle meine Verbindungen und mein ganzes Ansehen spielten überhaupt keine Rolle mehr.“ So schreibt Henri J. M. Nouwen, Professor und Schriftsteller, nachdem er seine Lehrtätigkeit an der Harvard-Universität gegen ein Mitleben in einer französischen „Arche“, einer Lebensgemeinschaft zusammen mit Menschen mit geistiger Behinderung, getauscht hatte. „Keiner dieser Menschen war imstande, eines meiner Bücher zu lesen; folglich war ich der Möglichkeit beraubt, als Schriftsteller Eindruck auf sie zu machen. Zudem hatten die meisten von ihnen nie eine Schule besucht, und so waren meine zwanzig Jahre in Notre Dame, Yale und Harvard total bedeutungslos für sie.“ Geradezu beängstigend sei es für den Neuankömmling gewesen, dass er hier keine der Fertigkeiten vorteilhaft einsetzen konnte, die ihm bisher hilfreich gewesen waren. „Die Sympathie oder Abneigung meiner Mitbewohner war völlig losgelöst von all dem, was ich bisher geleistet hatte.“

Also heißt es jetzt, beherzt wieder die Würfel in die Hand zu nehmen, um sich neu auf das Spielfeld zu begeben. Zurückgelassenes oder Verlorenes zu betrauern, aber auch das Neue zu sehen – wie in diesen Tagen die zarten Frühblüher, die sich aus der kalten Wintererde strecken. „Worauf es einzig und allein ankam“, erkannte Nouwen für sich als Lösung, „war, wie ich im Augenblick auf mein Gegenüber wirkte.“

Seiner früheren Rollen als Theologe und Führungskraft verlustig, fragte Nouwen sich schließlich: „Wer bin ich eigentlich im Tiefsten?“ – Eine Frage, die sich wohl jeder Mensch früher oder später stellt: „Wer bin ich im Tiefsten?“ Im Tiefsten bin ich ja nicht die Lehrerin, der Pizzakurier, die Bloggerin oder der Mechatroniker. Im Tiefsten bin ich ja „nicht mehr Jude oder Grieche, nicht Sklave oder Freier, nicht männlich oder weiblich“ (vgl. Gal 3,28), sondern im Tiefsten bin ich und darf ich sein „ich selber, dieser verwundbare Mensch, der Liebe empfängt und Liebe schenkt, unabhängig von jeder Leistung“ so Nouwen.

Doch wer zeigt schon gern seine Wunden und seine Bedürftigkeit? – Wir haben Einen, der es uns vormacht: Ein verwundbarer Mensch ist Gott uns in Jesus Christus geworden. Dieser verwundbare Gott, der Liebe schenken und empfangen möchte, „verbündet sich mit Glück und Unglück, um Menschen auf seinen Weg und zu seinem Ziel zu führen“ (D. Bonhoeffer). Gottes Ziel für den Menschen ist aber nicht ein Häuschen auf einem Spielbrett. Sein Ziel für jeden Menschen ist ein Leben mit Sinn und Erfüllung, in Lebendigkeit und Freude. „Bei dir ist Freude, Freude in Fülle“, so heißt es passend im Psalm 16.

Vielleicht kann es uns in den Faschings- und Karnevalstage gelingen, den Ernst des Lebens hier und da ein wenig leichter und spielerischer zu sehen und mehr die Freude zu teilen und zu verbreiten. Vielleicht können wir im ernsten Alltag dann und wann auch - mit einem Augenzwinkern Gottes - tief aus unserer Seele hören: „Mensch, ärgere dich nicht!“

Das wünscht mit herzlichen Grüßen
Marlies Fricke (GCL)

31. Januar 2018

In diesen Tagen, mit dem Fest der „Darstellung des Herrn“ am 2. Februar, verschwinden aus den Kirchen und Domen auch die letzten Weihnachtskrippen. Im Kind in der Krippe hat Gott sich klein und verwundbar gemacht. Rund 50 Jahre nach Christi Geburt schrieb der Apostel Paulus an die neugegründete Gemeinde in Philippi, welcher Gesinnung sie „in Christus Jesus“ sein soll:

Skulptur von Hilde Schürk-Frisch: Maria und Jesus, im Garten des Paderborner Priesterseminars.
Foto: Marlies Fricke

 

Brief an die Philipper 2,1-11

1 Wenn es also Ermahnung in Christus gibt, Zuspruch aus Liebe, eine Gemeinschaft des Geistes, herzliche Zuneigung und Erbarmen, 2 dann macht meine Freude dadurch vollkommen, dass ihr eines Sinnes seid, einander in Liebe verbunden, einmütig und einträchtig, 3 dass ihr nichts aus Ehrgeiz und nichts aus Prahlerei tut. Sondern in Demut schätze einer den andern höher ein als sich selbst. 4 Jeder achte nicht nur auf das eigene Wohl, sondern auch auf das der anderen. 5 Seid untereinander so gesinnt, wie es dem Leben in Christus Jesus entspricht:
6 Er war Gott gleich, hielt aber nicht daran fest, wie Gott zu sein, 7 sondern er entäußerte sich und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich. Sein Leben war das eines Menschen; 8 er erniedrigte sich und war gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz. 9 Darum hat ihn Gott über alle erhöht und ihm den Namen verliehen, der größer ist als alle Namen, 10 damit alle im Himmel, auf der Erde und unter der Erde ihre Knie beugen vor dem Namen Jesu 11 und jeder Mund bekennt: «Jesus Christus ist der Herr» - zur Ehre Gottes, des Vaters.