„Die Dinge singen hör ich so gern …“

Foto: Marylinalcyonova - CC0 1.0

Das ist eine Zeile aus einem Gedicht von Rainer Maria Rilke, das er 1909 geschrieben hat, und das unseren neuzeitlichen Umgang mit der Welt kritisiert:

Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort.
Sie sprechen alles so deutlich aus:
Und dieses heißt Hund und jenes heißt Haus,
und hier ist Beginn und das Ende ist dort.

Mich bangt auch ihr Sinn, ihr Spiel mit dem Spott,
sie wissen alles, was wird und war;
kein Berg ist ihnen mehr wunderbar;
ihr Garten und Gut grenzt grade an Gott.

Ich will immer warnen und wehren: Bleibt fern.
Die Dinge singen hör ich so gern.
Ihr rührt sie an: sie sind starr und stumm.
Ihr bringt mir alle die Dinge um.

Unser Umgang mit der Welt ist durch unsere Sprache und unser Denken geformt. Die moderne wissenschaftlich geprägte Sprache definiert und das heißt wörtlich „grenzt ein“ (finis=Ende und Ziel). Also sie legt die Begriffe fest. Sie sagt: Hier ist Beginn und das Ende ist dort. Dieses heißt Hund und jenes heißt Haus. Oder anders gesagt: ein Schimmel ist ein weißes Pferd. Die Definition legt fest. Genus proximum, das ist die nächsthöhere Gattung. Beim Schimmel ist diese nächsthöhere Gattung die Gattung der Pferde. Die differentia specifica, der spezielle Unterschied zu allen anderen Pferden ist die weiße Farbe. Das macht also den Schimmel aus. Das ist die Definition des Schimmels. Was ist der Mensch nach dieser Weise des Denkens? Er ist ein vernunftbegabtes Lebewesen, oder weiter auf Latein: er ist „animal rationale“. Wir gehören zu den animalischen Wesen und unser unterscheidendes Kennzeichen ist die „ratio“, die Vernunft. Das ist der Mensch. Und nichts weiter. Und nichts weiter?

Wer nur so denkt und redet, der steckt nach Rilke alles in Kästen oder Schubladen. Die begrenzende und eingrenzende Definition will die Dinge verstehbar und beherrschbar machen. Und das macht die Moderne so erfolgreich und stark. Alles unterwirft sich diese praktische und instrumentelle Vernunft. Mit Hilfe seiner Instrumente greift der Mensch auf alles aus. Ins unendlich Große und unendlich Kleine. Mikroskop und Teleskop. Höhenflug und Tiefenbohrung. Er wird immer mächtiger und wissender fast bis zu Allmacht und Allwissenheit: Ihr Garten und Gut grenzt grade an Gott.

Was ist die Folge dieses harten Zugriffs? Die Wunder hören auf. Es gibt nichts mehr zum Staunen und zum Be-Wundern. Kein Berg ist ihnen mehr wunderbar. Alles ist selbstverständlich geworden. Oder viel schlimmer: der harte Zugriff lässt die Welt verstummen. Die Welt sagt mir nichts mehr, weil ich durch die Definitionen alle Zusammenhänge der Dinge mit mir und untereinander abgeschnitten habe. Alles ist im Kasten oder im Käfig. Die Welt und die Dinge verstummen. Der Gesang der Welt hört auf. Wie der Gesang der Amsel im Käfig. Eingesperrt und isoliert sagen mir die Dinge nichts mehr. Sinn geht verloren, weil der Zusammenhang verloren ist. Sinn ist immer Zusammenhang.

Wir beginnen heute wahrzunehmen, dass es so viele Beziehungen gibt von allem zu allem. Dass sogar Bäume kommunizieren. Dass Bienen und Blumen sich verständigen. Dass die ganze Vegetation ein System ist, in dem alles zusammengehört. Das wissen wir. Und wir sehen, wie sehr wir mit unserem harten Zugriff zerstören und wie die Welt uns nichts mehr sagt. Hartmut Rosa hat darüber mehrere Bücher geschrieben. Zuletzt „Unverfügbarkeit“. Darin schildert er, wie die Welt verstummt und kein Resonanzraum mehr ist, wenn wir sie nur so behandeln, wie von Rilke kritisch geschildert.

Seien wir also behutsam im Umgang mit allem. Mit der Welt, mit den Dingen, mit dem Nächsten. Auch mit uns selbst. Dann vernehmen wir wieder den Gesang der Dinge. „Und die Welt hebt an zu singen…

Es grüßt sie herzlich
Thomas Gertler SJ

3. Mai 2023

Für Friedrich Spee, meinen Mitbruder aus dem 17. Jahrhundert, singt die ganze Welt, singen Bäume und Blumen und die Vögel samt der Nachtigall voller Osterfreude. Hier können Sie sein Lied hören und mitsingen. Das Bild zeigt uns diese die singende und klingende Frühlingswiese.

Foto: Guido Gerding - CC BY-SA 3.0

Die ganze Welt, Herr Jesu Christ,
Halleluja, Halleluja,
in deiner Urständ fröhlich ist.
Halleluja, Halleluja.

Das himmlisch Heer im Himmel singt,
Halleluja, Halleluja,
die Christenheit auf Erden klingt.
Halleluja, Halleluja.

Jetzt grünet, was nur grünen kann,
Halleluja, Halleluja,
die Bäum zu blühen fangen an.
Halleluja, Halleluja.

Es singen jetzt die Vögel all,
Halleluja, Halleluja,
jetzt singt und klingt die Nachtigall.
Halleluja, Halleluja.

Der Sonnenschein jetzt kommt herein,
Halleluja, Halleluja,
und gibt der Welt ein neuen Schein.
Halleluja, Halleluja.

Die ganze Welt, Herr Jesu Christ,
Halleluja, Halleluja,
in deiner Urständ fröhlich ist.
Halleluja, Halleluja.