Wir können die Wahrheit erkennen und wir können sie auch aussprechen, aber wir können sie nicht besitzen. Jedenfalls nicht so wie ich einen Stuhl besitze und benutze und darauf sitze. Nein, so nicht. Denn die Wahrheit ist immer größer als wir. Wenn ich sie besitzen und benutzen will, dann kehre ich dieses Verhältnis zur Wahrheit um und dann verschließt sie sich mir. Richtig ist es, sich der Wahrheit zu unterstellen, ihr zu dienen, sich nach ihr zu richten, ja, sogar sich von ihr richten zu lassen. Oder um es ganz alt und vornehm zu sagen: der Wahrheit die Ehre zu geben.
Dahinter steht die Überzeugung, dass wir wirklich Wahrheit erkennen – sie leuchtet ja ein – und auch aussprechen können, uns aber nicht über sie stellen können, sie nie in allen ihren Verästelungen und Konsequenzen erkennen können. Denn wie Hegel (1770-1831) so richtig gesagt hat: „das Wahre ist das Ganze“, und zwar das Ganze, das sich erst noch zeigen wird ganz am Ende. Das können wir nicht übergreifen, begreifen oder gar benutzen. Seit Francis Bacon (1561-1626) gilt der Satz: „Wissen ist Macht.“ Und er ist auch wahr. Nur wenn ich um die Wahrheit der physikalischen Gesetze weiß, sie anerkenne und anwende, kann ich fliegen. Sonst lande ich auf dem Bauch. Wenn ich aber meine, damit schon allmächtig und allwissend zu sein, dass also „mein Garten und Gut grade an Gott grenzt“, dann lande ich auch auf dem Bauch oder in der Klimakatastrophe.
Rilke hat diese falsche Einstellung schon in einem prophetischen Gedicht von 1898 eingefangen:
Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort.
Sie sprechen alles so deutlich aus:
Und dieses heißt Hund und jenes heißt Haus,
und hier ist Beginn und das Ende ist dort.
Mich bangt auch ihr Sinn, ihr Spiel mit dem Spott,
sie wissen alles, was wird und war;
kein Berg ist ihnen mehr wunderbar;
ihr Garten und Gut grenzt grade an Gott.
Ich will immer warnen und wehren: Bleibt fern.
Die Dinge singen hör ich so gern.
Ihr rührt sie an: sie sind starr und stumm.
Ihr bringt mir alle die Dinge um.
Wenn wir nur definitorisch mit Menschen und Dingen umgehen (hier ist Beginn und das Ende ist dort), dann grenzen wir sie ein, nehmen ihnen Wurzeln und Blätter, mit denen sie mit allem ringsum in Verbindung stehen (wie Wohlleben bei den Bäumen gezeigt hat) und stecken sie in eine Schublade oder einen Käfig. Das macht sie beherrschbar, macht sie aber auch starr und stumm. Das heißt, sie sagen mir nichts mehr. Meine Beziehung zu ihnen habe ich gekappt. Der Vogel im Käfig bleibt stumm. Einen Sinn des Ganzen vernehme ich nicht mehr, weil ich mich von allem abgeschnitten habe. Das ist die Gefahr, die ein einseitiger Umgang mit der Machtförmigkeit der Wahrheit in sich birgt. Und das hat Rilke sehr wach und sensibel wahrgenommen.
Um da heraus zu kommen, müssen wir wirklich wieder lernen, auf das Ganze zu schauen, es wahr zu nehmen, uns nach ihm zu richten und von ihm ausrichten zu lassen. Dazu müssen wir unsere Wahr-Nehmungs-Fähigkeit üben, wie hier vorgeführt. Wenn wir das üben, üben, üben, wird uns irgendwann die Welt epiphan – durchscheinend auf den hin, der hinter allem steht, auf die Wahrheit selbst hin, die Gott ist. Darauf zu stoßen, erfordert große Anstrengung und ist zugleich ein großes Geschenk und eine große Freude.
Und diese große Freude wünsche ich Ihnen, wie sie die Sterndeuter aus dem Osten hatten, als sie den Stern wieder sahen und das Kind und seine Mutter fanden (Mt 2,10).
Thomas Gertler SJ
8. Januar 2020
Die Geschichte von den Sterndeutern ist eine von damaligen heidnischen Wissenschaftlern auf der Suche nach der Wahrheit. Sie kamen wohl aus dem Zweistromland, dem heute so geplagten Irak. Sie beobachteten die Sterne und versuchten zu verstehen, was sie sagen wollen. Zuerst einmal, um für ihr Land Zeiten für Aussaat und Ernte zu bestimmen. Aber sie sahen und suchten auch tiefer und so sahen den Stern aufgehen, der den König der Juden ankündigte, den Messias und Retter. Und sie machten sich auf den Weg und finden ihn voll Freude und beten ihn an. Ganz anders Herodes. Er erschrickt vor der Wahrheit und will sie umbringen.

Die Sterndeuter bei Herodes von James Tissot (um 1890)
Matthäus 2,1 - 12
2,1 Als Jesus zur Zeit des Königs Herodes in Betlehem in Judäa geboren worden war, siehe, da kamen Sterndeuter aus dem Osten nach Jerusalem 2 und fragten: Wo ist der neugeborene König der Juden? Wir haben seinen Stern aufgehen sehen und sind gekommen, um ihm zu huldigen. 3 Als König Herodes das hörte, erschrak er und mit ihm ganz Jerusalem. 4 Er ließ alle Hohepriester und Schriftgelehrten des Volkes zusammenkommen und erkundigte sich bei ihnen, wo der Christus geboren werden solle. 5 Sie antworteten ihm: in Betlehem in Judäa; denn so steht es geschrieben bei dem Propheten: 6 Du, Betlehem im Gebiet von Juda, bist keineswegs die unbedeutendste unter den führenden Städten von Juda; denn aus dir wird ein Fürst hervorgehen, der Hirt meines Volkes Israel. 7 Danach rief Herodes die Sterndeuter heimlich zu sich und ließ sich von ihnen genau sagen, wann der Stern erschienen war. 8 Dann schickte er sie nach Betlehem und sagte: Geht und forscht sorgfältig nach dem Kind; und wenn ihr es gefunden habt, berichtet mir, damit auch ich hingehe und ihm huldige! 9 Nach diesen Worten des Königs machten sie sich auf den Weg. Und siehe, der Stern, den sie hatten aufgehen sehen, zog vor ihnen her bis zu dem Ort, wo das Kind war; dort blieb er stehen. 10 Als sie den Stern sahen, wurden sie von sehr großer Freude erfüllt. 11 Sie gingen in das Haus und sahen das Kind und Maria, seine Mutter; da fielen sie nieder und huldigten ihm. Dann holten sie ihre Schätze hervor und brachten ihm Gold, Weihrauch und Myrrhe als Gaben dar. 12 Weil ihnen aber im Traum geboten wurde, nicht zu Herodes zurückzukehren, zogen sie auf einem anderen Weg heim in ihr Land.