Der Furcht-Ableiter

Foto: Thomas Gertler

Diesem kleinen Herrn aus dem 18. Jahrhundert begegne ich stets, wenn ich zum Göttinger Bahnhof gehe oder vom Bahnhof komme. Kennen Sie ihn? Es ist Georg Christoph Lichtenberg (1742-1799). In seiner Hand trägt er eine Kugel mit Plus und Minus. Daran reiben die Leute gern, wie man sieht. Er war der erste Professor für Experimentalphysik in Göttingen. Er interessierte sich auch sehr für die Elektrizität und die Blitze und die Blitzableiter. Daher die Kugel mit Plus und Minus. Er war der Meinung: „Dass in den Kirchen gepredigt wird, macht deswegen die Blitzableiter auf ihnen nicht unnötig.“

Bekannt ist er allerdings nicht so sehr wegen dieser Forschungen, sondern wegen seiner Aphorismen. Also wegen seiner Geistesblitze. Ja, er ist so recht der Erfinder dieser literarischen Gattung für Deutschland. In seinen „Sudelbüchern“ hat er seine Gedankenblitze aufgeschrieben. Schon in meiner Jugendzeit hat mir ein Buch mit seinen Sprüchen viel Spaß gemacht. Sie regten zum Denken und zum genauen Hinschauen an. Hier können Sie die Sudelbücher lesen.

Lichtenberg war nur ein Meter vierzig groß, weil er durch Rachitis in seiner Kindheit eine Rückgratverkrümmung hatte. Die hat ihm sein Leben lang zu schaffen gemacht. Immer hatte er Schmerzen, oft Atemnot und natürlich auch hat sie ihn zum Außenseiter gemacht. Dadurch wurde er ein sehr sensibler Mensch. Seine Wahrnehmung war überscharf. Der Natur gegenüber, den Mitmenschen und sich selbst gegenüber. Darum brauchte er nicht nur für sein Gartenhaus, sondern auch in seinem Leben Blitzableiter.

Er nannte den Blitzableiter auch Furchtableiter. Und diese Furchtableiter waren sein Humor und sein kritisches und eigenständiges und immer tiefer schürfendes Denken. So fragt er beispielsweise, um beim Thema zu bleiben: „Furcht, sagt Lukrez, hat die Götter geschaffen, aber wer schuf diese allmächtige Furcht?“ (Was denken Sie?) Und damit sind wir bei einem weiteren und wohl wirksamsten Furchtableiter für ihn und das ist seine Frömmigkeit.

Freilich ist er, der Pfarrerssohn, zuerst als Kritiker der Religion bekannt – besonders die Katholiken bekommen oft seine witzigen Urteile zu hören. Er ist ja wirklich ganz gar ein Aufklärer. Darum ist für ihn Gott vor allem und zuerst in der Natur, in der Schöpfung zu finden. Aber da eben so, dass es ihn zuinnerst ergreift und persönlich anrührt, tröstet und von Furcht befreit. Von dem, der das alles geschaffen hat und der von Ewigkeit war, ehe er alles geschaffen hat, von dem weiß er sich selbst getragen und geleitet. Er schreibt von sich selbst: „Er kann mit Inbrunst beten und hat nie den 90ten Psalm ohne ein erhabenes, unbeschreibliches Gefühl lesen können.“

Ja, mit diesem erhabenen und ewigen Gott weiß er sich selbst persönlich in enger Beziehung und von ihm geführt. Überall sieht er die alltäglichen Ereignisse seines Lebens, das Krabbeln eines Käfers und Winde und Wetter, besonders die Gewitter als Zeichen Gottes für sein Leben an. Das kippt schon fast in Aberglauben um, wie er selbst bei sich feststellt: „Einer der merkwürdigsten Züge in meinem Charakter ist gewiss der seltsame Aberglaube, womit ich aus jeder Sache eine Vorbedeutung ziehe und in einem Tag hundert Dinge zum Orakel mache. … Jedes Kriechen eines Insekts dient mir zu Antworten über Fragen über mein Schicksal. Ist das nicht sonderbar von einem Professor der Physik?“

Hier haben wir seine erstaunliche Wahrhaftigkeit sich selbst gegenüber. Und Sie verehrte Leserinnen und Leser, werden das vielleicht auch von sich selbst kennen und sich vielleicht darüber wundern, wie das nicht nur einem Physikprofessor des 18., sondern Ihnen als einem aufgeklärten Menschen des inzwischen 21. Jahrhunderts passieren kann.

Ja, wie kommt das? Und wo fängt eigentlich der Aberglaube an? Das lassen wir mal einfach so als Frage da stehen. Und wenn Sie noch tiefer in Lichtenbergs Frömmigkeit einsteigen wollen und wissen wollen, woher ich meine Weisheit geschöpft habe, lesen Sie hier weiter.

Es grüßt Sie herzlich aus Göttingen
Thomas Gertler SJ

6. Oktober 2021

 

Und hier kommt selbstverständlich der Psalm 90, der Lichtenberg so sehr angerührt hat, besonders der zweite Vers, der von Gottes Schöpfermacht und seiner Ewigkeit spricht. Und das Bild muss selbstverständlich ein Gewitterbild sein.

Foto: André Karwath - CC BY-SA 2.5

Psalm 90

90,1 Ein Gebet des Mose, des Mannes Gottes. Herr, du bist unsre Zuflucht für und für. / 2 Ehe denn die Berge wurden und die Erde und die Welt geschaffen wurden, bist du, Gott, von Ewigkeit zu Ewigkeit. 3 Der du die Menschen lässest sterben und sprichst: Kommt wieder, Menschenkinder! 4 Denn tausend Jahre sind vor dir / wie der Tag, der gestern vergangen ist, und wie eine Nachtwache. 5 Du lässest sie dahinfahren wie einen Strom, / sie sind wie ein Schlaf, wie ein Gras, das am Morgen noch sprosst, 6 das am Morgen blüht und sprosst und des Abends welkt und verdorrt. 7 Das macht dein Zorn, dass wir so vergehen, und dein Grimm, dass wir so plötzlich dahinmüssen. 8 Denn unsre Missetaten stellst du vor dich, unsre unerkannte Sünde ins Licht vor deinem Angesicht. 9 Darum fahren alle unsre Tage dahin durch deinen Zorn, wir bringen unsre Jahre zu wie ein Geschwätz. 10 Unser Leben währet siebzig Jahre, und wenn's hoch kommt, so sind's achtzig Jahre, und was daran köstlich scheint, ist doch nur vergebliche Mühe; denn es fähret schnell dahin, als flögen wir davon. 11 Wer glaubt's aber, dass du so sehr zürnest, und wer fürchtet sich vor dir in deinem Grimm? 12 Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden. 13 HERR, kehre dich doch endlich wieder zu uns und sei deinen Knechten gnädig! 14 Fülle uns frühe mit deiner Gnade, so wollen wir rühmen und fröhlich sein unser Leben lang. 15 Erfreue uns nun wieder, nachdem du uns so lange plagest, nachdem wir so lange Unglück leiden. 16 Zeige deinen Knechten deine Werke und deine Herrlichkeit ihren Kindern. 17 Und der Herr, unser Gott, sei uns freundlich / und fördere das Werk unsrer Hände bei uns. Ja, das Werk unsrer Hände wollest du fördern!