Das Wiedersehen

Foto: Rufus46 – CC BY-SA 3.0

 

Heute lade ich Sie ein, mit mir zusammen Ernst Barlachs Werk „Das Wiedersehen“ zu betrachten. Betrachten als anschauen, als wahrnehmen, aber dann auch als betende Betrachtung.

Das ist ja immer das Erste: wahrnehmen, anschauen, ganz in das Anschauen gehen, noch ohne Deutung und Bewertung. Was sehe ich? Mit einem Maus-Klick gibt hier es die Möglichkeit, das Kunstwerk ausführlich von oben bis unten und ringsum anzuschauen. Es lässt sich auch drehen und vergrößern. Nehmen Sie sich Zeit dafür.

Was sehen wir? Zwei Personen: Jesus und Thomas. Jesus ganz aufrecht. Thomas geknickt. So schaut er Jesus von unten in sein Gesicht. Und dieses Gesicht Jesu zeigt keine Mimik. Es ist aber auch nicht gleichgültig. Kein Nullgesicht, wie man sonst Gesichter ohne Mimik nennt. Nein, dieses Gesicht hat etwas Archaisches, etwas Fremdes, ja, es ist so wie die ostkirchlichen Ikonen. Ganz anders das Gesicht von Thomas. Es hat einen intensiven Ausdruck. Wir schauen beide gleich noch genauer an.

Jetzt schauen wir erst noch einmal auf die Haltung der beiden. Jesus aufrecht. Er hält Thomas. Wenn wir Jesu Hände anschauen, so sehen wir, es sind verwundete Hände. Genauso die Füße. Sie tragen Narben, sie sind noch ganz verformt von der Kreuzesqual. Sie stehen aber fest auf der Erde und die Hände halten Thomas fest und sicher. Ja, sie richten ihn auf. Dieser Mann ist wirklich der Gekreuzigte. Er trägt die Wundmale. Aber sie behindern ihn nicht.

Thomas, der Geknickte, legt die Hand auf Jesu Schulter. Sein Gesicht zeigt Staunen. Ganz großes Erstaunen. Ist es genau der Übergang vom ungläubigen zum gläubigen Staunen? Ist es der Augenblick des Wiedersehens und des Wiedererkennens? Ich meine, ja, das ist genau dieser Augenblick. Der Übergang vom ungläubigen zum gläubigen Thomas. Ja, aber Jesu Gesicht scheint eben gar nicht darauf zu reagieren. Es hat diesen Blick und Ausdruck einer ostkirchlichen Ikone, hier von Barlachs Hand geschnitzt.

Und wie die ostkirchlichen Ikonen schaut er Thomas an. Er schaut ihn an, aber er fixiert ihn nicht. Er schaut zugleich tiefer und hindurch. Es ist der Blick aus der anderen Welt hinein in diese Welt und in Thomas‘ Gesicht, aber zugleich schaut dieser Blick wieder weiter in die andere Welt hinein. Für mich bringt Barlach durch diese befremdend andere Reaktion Jesu zum Ausdruck, dass es ein Wiedersehen ist, ja, aber kein gewöhnliches Wiedersehen. Jesus ist derselbe. Er ist der durch das Kreuz Gezeichnete. Zugleich ist er ein anderer. Es ist der Auferstandene. Etwas Neues hat begonnen. Er kommt aus der Welt Gottes. Er schaut anders auf uns und diese Welt.

Von ihm geht Frieden aus. Aber eben kein harmlos gemütlicher Frieden, wie wir ihn so gern haben. Nein, der Friede hat etwas Ernstes. Dieses Gesicht Jesu ist ernst. Da ist eben kein Lächeln. Es ist der Frieden, wie Jesus sagt, den die Welt nicht geben kann. Er gründet tief. Er gründet in Gott, in der Tat seiner Liebe. Da sind Wunden und Qual des Kreuzes Jesu aber auch aller Welt, auch meine Wunden und Qualen, mit enthalten, aber die Wunden sind überwunden, wie Marlies Fricke geschrieben hat. Tod ist ins Leben übergegangen.

Damit sind wir schon vom Anschauen, über das Deuten hin zum Betrachten gekommen. Und da darf auch ich jetzt meine Hand auf Jesu Schulter legen. Ich darf mich von seinen Händen aufrichten lassen. Ich darf ihn suchend und fragend anschauen. So lange, bis mir geschenkt wird, dass auch mein ungläubiges Staunen in gläubiges Staunen übergehen kann. So lange, bis ich wie Thomas erkennen und bekennen kann: Mein Herr und mein Gott.

Das kann lange dauern. Das kann blitzartig geschehen. Es kann geschehen. Und das wünsche ich Ihnen.

Thomas Gertler SJ

15. April 2020

Oft ist diese Begegnung zwischen dem auferstandenen Jesus und Thomas von Künstlern dargestellt worden. Barlach hat seine ganz eigene, seine stille, seine ernste, sensible und sehr nachfühlbare Weise gefunden, den Augenblick des Wiedererkennens darzustellen. Er passt zu unserer jetzigen Situation, meine ich.

Foto: Thomas Gertler

Johannes 20,24 - 31

20,24 Thomas, der Didymus [Zwilling] genannt wurde, einer der Zwölf, war nicht bei ihnen, als Jesus kam. 25 Die anderen Jünger sagten zu ihm: Wir haben den Herrn gesehen. Er entgegnete ihnen: Wenn ich nicht das Mal der Nägel an seinen Händen sehe und wenn ich meinen Finger nicht in das Mal der Nägel und meine Hand nicht in seine Seite lege, glaube ich nicht. 26 Acht Tage darauf waren seine Jünger wieder drinnen versammelt und Thomas war dabei. Da kam Jesus bei verschlossenen Türen, trat in ihre Mitte und sagte: Friede sei mit euch! 27 Dann sagte er zu Thomas: Streck deinen Finger hierher aus und sieh meine Hände! Streck deine Hand aus und leg sie in meine Seite und sei nicht ungläubig, sondern gläubig! 28 Thomas antwortete und sagte zu ihm: Mein Herr und mein Gott! 29 Jesus sagte zu ihm: Weil du mich gesehen hast, glaubst du. Selig sind, die nicht sehen und doch glauben.
30 Noch viele andere Zeichen hat Jesus vor den Augen seiner Jünger getan, die in diesem Buch nicht aufgeschrieben sind. 31 Diese aber sind aufgeschrieben, damit ihr glaubt, dass Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes, und damit ihr durch den Glauben Leben habt in seinem Namen.