
Thomas Gertler
Die Binsenwahrheit ist einfach und flach. So wie der Spruch der Dachdecker: „Beim Flachdach ist das Dach flach.“ Die Binsenweisheit dagegen ist zwar einfach wie die Binsenwahrheit, sie ist aber tief wie der folgende Satz: „Auch die längste Reise beginnt mit dem ersten Schritt.“ Weisheit ist durch Erfahrung erworben. Sie braucht viele lange Fahrten und erste Schritte, bis sie Erfahrung und Weisheit wird.
Heute möchte ich mit Ihnen eine Übung machen. Sie soll von der Binsenwahrheit zur Binsenweisheit führen. Dafür müssen Sie diese Übung aber nicht nur einmal machen, sondern oft.
Sehen Sie das Schilfgras? Es ist keine Binse, aber wächst ähnlich im Feuchten. Nehmen Sie sich so etwas ganz einfaches. Ein Gras, einen Tannenzapfen, einen Tannenzweig, ein Blatt, ein Ahornblatt zum Beispiel. Irgendwas, das Sie gerade leicht finden. Und damit setzen Sie sich hin. Ich habe mich mit dem Schilfgras hingesetzt, jetzt bei meinen stillen Tagen im Kloster Alexanderdorf.
Schauen Sie dieses Gras an. Nur anschauen. Nicht nachdenken. Nicht deuten. Nicht verstehen wollen. Nur anschauen. Ganz und gar im Schauen sein. Ganz und gar im Wahrnehmen bleiben. Gern also auch fühlen, tasten, riechen. Alle fünf Sinne kann ich beteiligen. Aber nicht die Gedanken, nicht den Verstand! Nein, nur wahrnehmen. Dieses Schilfgras oder den Tannenzapfen oder das Ahornblatt.
Eine leichte und einfache Übung. So denken Sie vielleicht. Eine schwere, sehr schwere Übung, wenn Sie sie machen. Wenn Sie es hinbekommen 25 Minuten lang. Denn selbstverständlich kommen sofort Gedanken wie diese: Dieses Schilfgras wächst schon lange hier an den Entwässerungsgräben. Es gibt auch die herrlichen Kolben, hinter denen ich als Junge immer her war. Wie alt mag es sein? Wie lange mag es hier schon stehen? Es ist ganz vertrocknet. Lebt es noch?
Nein, Thomas, nicht nachdenken, nicht verstehen, nur sehen. Nur sehen. Ja, auch darüber streichen. Es ist ganz weich, fast wie ein Fell. Das kommt durch die Samen. Diese hell leuchtenden kleinen Samen. Sie haben so einen ganz weichen Flaum. Noch sitzen sie fest an der Rispe. Wenn sie aber losfliegen, dann fliegen sie durch den winzigsten Windhauch bewegt. Man könnte sie für ein Insekt halten. Und wie total fein diese Samen sind. Unglaublich. Wie sinnreich konstruiert, dass sie so leicht und weit fliegen. Und wenn sie landen, wie auf meiner Jacke, dann sitzen sie fest. Gibt es Widerhaken?
Aber schon wieder bin ich beim Denken. Ich will aber schauen, nur schauen. Nur spüren. Nur schauen. Nur wahrnehmen. Nichts weiter. Schwer, sehr schwer.
Aber es tut auch gut, so gut. Denn ich komme dabei tatsächlich aus dem Denken heraus. Ich gehe weg von mir. Hin zum Schilf. Bin immer mehr bei dem Schilf. Nicht mehr in meinem Kopf. Und ich fange an zu staunen. Wie wunderbar dieses so einfache und gewöhnliche Schilf ist. Ganz genau schaue ich hin, wie diese Rispe mit ihren vielen, vielen Verästelungen aus dem Schilfrohr herausgewachsen ist. Wie sich das immer weiter verzweigt, bis es in den kleinen silbergrauen Samen endet. Und damit ist die ganze Rispe voll.
Sie sieht so vertrocknet und tot aus und sendet doch ihre Samen noch überall hin, wenn es warm und trocken wird.
Je länger und öfter ich diese Schilfgras betrachte, um so lieber und wertvoller wird es mir. Das Verhältnis zu diesem einfachen Ding verwandelt sich. Denn ich habe es entdeckt. Ich habe es erkannt in seiner Einmaligkeit. Ich habe es lieben gelernt.
So einfach, binseneinfach, möchte man sagen, und zugleich schwer. Und wie es zur Binsenweisheit führt, indem es mich mit der Wirklichkeit in Berührung bringt! Das ist das wichtigste, einfachste und schwerste an dieser Übung. Sie bringt uns mit der Wirklichkeit in Verbindung. Sie lässt uns die Wirklichkeit berühren. Und führt mich damit, wenn ich gläubig bin, zur Verbindung mit Gott. Sein Geheimnis berühre ich da.
Das wünsche ich Ihnen mit dieser „binsenleichten“ Übung!
Thomas Gertler
10. Januar 2018
Jesus fordert uns auf, die Natur wahrzunehmen, sie anzuschauen und darin Gott zu begegnen, Seiner Sorge, Seiner Liebe, Seiner Nähe. Er ist für die Augen des Glaubens in der ganz einfachen Wirklichkeit zu finden. Im Gras auf dem Feld, in der Binse am Wasser, im Schilf am See. In den Vögeln am Himmel wie dieser Krähe. So schreibt es uns der Evangelist Lukas.

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Lk 12, 22 - 32
12, 22 Und er sagte zu seinen Jüngern: Deswegen sage ich euch: Sorgt euch nicht um euer Leben und darum, dass ihr etwas zu essen habt, noch um euren Leib und darum, dass ihr etwas anzuziehen habt. 23 Das Leben ist wichtiger als die Nahrung und der Leib wichtiger als die Kleidung. 24 Seht auf die Raben: Sie säen nicht und ernten nicht, sie haben keinen Speicher und keine Scheune; denn Gott ernährt sie. Wie viel mehr seid ihr wert als die Vögel!
25 Wer von euch kann mit all seiner Sorge sein Leben auch nur um eine kleine Zeitspanne verlängern? 26 Wenn ihr nicht einmal etwas so Geringes könnt, warum macht ihr euch dann Sorgen um all das übrige? 27 Seht euch die Lilien an: Sie arbeiten nicht und spinnen nicht. Doch ich sage euch: Selbst Salomo war in all seiner Pracht nicht gekleidet wie eine von ihnen. 28 Wenn aber Gott schon das Gras so prächtig kleidet, das heute auf dem Feld steht und morgen ins Feuer geworfen wird, wie viel mehr dann euch, ihr Kleingläubigen!
29 Darum fragt nicht, was ihr essen und was ihr trinken sollt, und ängstigt euch nicht! 30 Denn um all das geht es den Heiden in der Welt. Euer Vater weiß, dass ihr das braucht. 31 Euch jedoch muss es um sein Reich gehen; dann wird euch das andere dazugegeben. 32 Fürchte dich nicht, du kleine Herde! Denn euer Vater hat beschlossen, euch das Reich zu geben.