
Foto: Bernhard Riedl via pfarrbriefservice.de
Das Rücklicht an meinem Fahrrad ist kaputt, die Senseo will schon seit Wochen entkalkt werden und im Wohnzimmer blättert der Lack von der Fensterbank ab. „Ach, warum muss alles immer so unvollkommen sein?“ frage ich mich in missgelaunten Momenten. „So flüchtig und brüchig! Kann nicht einfach mal alles okay sein?“
Da höre ich zu Beginn des Advents im Gottesdienst: „Jetzt ist das Heil uns näher, als zu der Zeit, als wir gläubig wurden“ (Röm 13, 11). Dieses „Jetzt“ hat mich hellhörig gemacht. „Jetzt ist das Heil uns näher ...“ Gilt das vielleicht auch für kaputte Fahrräder und blätternden Lack, für den Synodalen Weg der Kirche oder für den Green Deal der EU? – Jetzt?!
Der Countdown läuft, sechs Türchen sind am Adventskalender noch zu öffnen, bevor wir die Geburt des Heilbringers Jesus Christus feiern. „O Gott“, wird mancher ausrufen, „was ist noch alles zu erledigen!“ „Oje! In sechs Tagen ist Heiligabend!“ Ob das unbewusste Überbleibsel von Gebet sind: „O Gott“…, „O Herr“…, „Oje(sus)“…?
Mit solchen Gebetsrufen haben die Christen im Mittelalter sehr ernsthaft ihr Staunen und Flehen ausgedrückt; die Kirche zählt diese rund 1400 Jahre alten „O“-Ausrufe bis heute bewusst zu ihrem festen Gebetsschatz. So wird an den letzten sieben Tagen des Advent, also seit gestern Abend, das Magnifikat (s.u.) jeweils eingerahmt von einer solchen „O-Antiphon“. In jeder der sieben Antiphonen, einem Wechsel- bzw. Antwortgesang, wird der ersehnte Retter mit einem besonderen Namen angesprochen, angefleht, herbeigesehnt. Uralte und zugleich zeitlose Symbolbilder wie der Morgenstern, der Schlüssel oder die Wurzel unterstreichen das nie endende menschliche Sehnen:

Foto: Gerhard Hüdepohl
Die Venus als Morgenstern.
17. Dezember: O sapientia - O Weisheit
18. Dezember: O Adonai - O Herr
19. Dezember: O radix Jesse - O Wurzel Jesse
20. Dezember: O clavis David - O Schlüssel Davids
21. Dezember: O oriens - O Morgenstern
22. Dezember: O rex gentium - O König der Völker
23. Dezember: O Emmanuel - O Immanuel, Gott mit uns
Vielleicht möchten Sie in einer ruhigen Stunde am Adventskranz einmal diese Ausrufe und die uralten Bilder auf sich wirken lassen und dabei einigen Gedanken nachgehen? Den vollständigen Strophentext der Antiphonen finden Sie übrigens im Gotteslob unter der Nr. 222.
• Spricht mich einer der Namen für Gott besonders an? Möchte ich damit Gott persönlich anreden? Möchte ich persönlich die Namenliste für Gott erweitern?
• Jede O-Antiphon mündet in die Bitte an Gott: „Komm, …!“- Wo möchte ich Gott hereinlassen? In welches konkrete Tun, in welche Unsicherheit? In welchen großen oder kleinen Schmerz, in welche Freude, Angst oder Sehnsucht soll Er kommen?
Gottes erwartetes Kommen, um das es in diesen Wochen, ja, unser ganzes Leben lang geht, läuft nicht auf einen Schlusspunkt zu, wie man angesichts mancher Äußerlichkeiten im Advent meinen könnte. Nein, der göttliche Countdown läuft auf eine Zeitenwende zu, auf einen Neuanfang, auf den Anfang in der Krippe von Betlehem, wenn Gott selbst in unser Fleisch und in unsere Haut schlüpft.
Seit Betlehem ist alles anders, bis ins Jetzt, bis in unseren kleinen unvollkommenen Alltag hinein. Denn genau hier, wo auch schon mal der Lack ab ist, will der Immanuel mit uns sein und mit uns und für uns immer wieder neu anfangen. Kein perfektes Wohnzimmer braucht er dafür, sondern ein bereitwilliges Herz. – Lassen wir ihn herein?
Ich wünsche Ihnen in diesem Sinn einen gesegneten Countdown der Adventszeit und dann eine wirkliche Ankunft des Adonai!
Herzlich grüße ich Sie
Marlies Fricke (GCL)
18. Dezember 2019
Hier das Magnifikat (Lukas-Evangelium 1, 46-55), der Lobgesang der schwangeren Maria bei ihrer Cousine Elisabeth, umrahmt von der O-Antiphon des 18. Dezember:
O Adonai, Herr und Führer des Hauses Israel – im flammenden Dornbusch bist du dem Mose erschienen und hast ihm auf dem Berg das Gesetz gegeben: o komm und befreie uns mit deinem starken Arm!
Meine Seele preist die Größe des Herrn
und mein Geist jubelt über Gott, meinen Retter.
Denn auf die Niedrigkeit seiner Magd hat er geschaut.
Siehe, von nun an preisen mich selig alle Geschlechter.
Denn der Mächtige hat Großes an mir getan
und sein Name ist heilig.
Er erbarmt sich von Geschlecht zu Geschlecht
über alle, die ihn fürchten.
Er vollbringt mit seinem Arm machtvolle Taten:
Er zerstreut, die im Herzen voll Hochmut sind;
er stürzt die Mächtigen vom Thron
und erhöht die Niedrigen.
Die Hungernden beschenkt er mit seinen Gaben
und lässt die Reichen leer ausgehen.
Er nimmt sich seines Knechtes Israel an
und denkt an sein Erbarmen,
das er unsern Vätern verheißen hat,
Abraham und seinen Nachkommen auf ewig.
Ehre sei dem Vater und dem Sohn und dem Heiligen Geist,
wie im Anfang, so auch jetzt und allezeit und in Ewigkeit. Amen.
O Adonai, Herr und Führer des Hauses Israel – im flammenden Dornbusch bist du dem Mose erschienen und hast ihm auf dem Berg das Gesetz gegeben: o komm und befreie uns mit deinem starken Arm!