Aus dem Fenster schauen

Foto: Thomas Gertler

Das ist der Blick aus meinem Fenster im Kloster Alexanderdorf bei Berlin, wo ich schon viele Jahre eine stille Zeit von acht Tagen bzw. meine eigenen Exerzitien mache. Bisher habe ich Ihnen von da oft einen Gegenstand mitgebracht: ein Schilfrohr, einen Erlenzweig oder ähnliches. Diesmal möchte ich mit Ihnen zusammen eine Übung machen, die mir dort jeden Tag geschenkt war: einfach aus dem Fenster schauen.

Nichts weiter tun als von einem guten Sitz aus dem Fenster schauen. Gut sitzen heißt gerade sitzen können. Nicht zu niedrig, sondern so, dass Füße und Unterschenkel, Knie und Becken/Rücken jeweils etwa 90 Grad Winkel bilden. So kann man gut sitzen, ohne einzuschlafen. Und dann einfach schauen. Aus dem Fenster schauen. Da passiert nicht viel. Ein Anfänger meint gar: Da passiert ja gar nichts. Überhaupt nichts. Warte, schaue, warte, schaue: es passiert nichts und es passiert viel.

Ich sehe die Birkenzweige leise im Wind schaukeln. Es sitzt ein Vogel im Baum. Nun fliegt er davon. Es passiert nichts und es passiert viel. Die Wolken ziehen. Langsam ziehen sie von links nach rechts. Warten und schauen. Möglichst nicht nachdenken. Möglichst ganz im Schauen bleiben. Und wenn ich so ganz im Schauen bleibe, dann verliere ich meine Ungeduld, dass nichts passiert. Dann passiert vielleicht auch einmal in mir nichts und es ist gut so. Ich atme Frieden ein. Die Ruhe der Landschaft kommt in mich. Es passiert nichts und es passiert viel.

Es ist ein Geschenk, so einen Blick aus dem Fenster zu haben. Ins Weite. Ins Freie. In die Natur. In den Himmel. Als Diakon war ich 1975/76 in Berlin Mitte zu einem Praktikum. Aus meinem Zimmer habe ich auf eine Mauer geschaut. Es war zum Glück nicht DIE Mauer. Nicht die berüchtigte Berliner Mauer. Es war eine fromme Mauer, nämlich die Kirchenmauer. Aber es war trotzdem schrecklich. Kein Grün. Kein Baum, kein Strauch. Nur Stein. Nein!

Hier dagegen dieser wohltuende, heilende Blick, der in die Stille und in den Frieden führt. Und noch etwas, das Sie sehen können. Die Zeit vergeht. Sie können merken, wie sich die Erde dreht! Wie das? So sensibel wird man da, dass man merkt, wie sich die Erde dreht! Ja, hundertprozentig. Sie können es sehen. Sie können es beobachten aus dem Fenster in Alexanderdorf. Sie sehen die Sonnenstreifen auf dem Bild? Genau dahin habe ich geschaut und versucht zu sehen, wie sie kleiner werden, schmaler und schmaler werden. Die Bäume, die im Licht standen, geraten langsam in den Schatten, ganz langsam dreht sich die Erde oder wie wir fälschlicherweise sagen, geht die Sonne unter. Das sehen Sie auf dem nächsten Bild.

Und noch ein letztes. Wie hat Jesus aus dem Fenster geschaut? Er hat aus dem Fenster geschaut und in diesem ganz gewöhnlichen, alltäglichen Geschehen, wo nichts passiert, und viel passiert, in diesem Geschehen hat er Gottes Liebe gesehen. Und das möchte ich lernen, beim ganz gewöhnlichen aus dem Fenster schauen Gottes Liebe sehen, wahrnehmen, sie in mich dringen lassen, sie quasi einatmen. Denn sie umgibt uns ständig wie die Sonne, wie der Regen, wie die Luft und wie die Wolken. Immer ist sie da.

Jesus sieht darin sogar Gottes Feindesliebe, nicht nur die Liebe zu den Guten, nein, zu allen Menschen. Zu den Guten und zu den Bösen. Wie Jesus aus dem Fenster zu schauen, ist also ziemlich gefährlich, weil sein Blick aus dem Fenster womöglich meinen Blick aus dem Fenster verwandelt. Also vielleicht doch nicht so wie Jesus aus dem Fenster schauen? Ist zu gefährlich? Zu anspruchsvoll? Zu heftig?

Ja, es ist heftig, ja es ist anspruchsvoll, aber es ist zuerst heilsam und friedenbringend. Denn diese Liebe Gottes zu allen und zu allem, sogar zu den Feinden, die gilt ja auch mir, auch mir mit meinen Ängsten, meinen sturen und harten und bösen Stellen, mit meinen Unfähigkeiten und Verweigerungen. Mit all dem, was an mir und mit mir schwer und schwierig ist. Gottes Liebe umgibt das alles schon, und so weit ich sie zulasse, ihr glaube, sie einlasse, soweit heilt sie und wärmt sie und wandelt sie, wärmt sie und wandelt sie mich.

Schauen Sie einfach mal aus dem Fenster, wünscht Ihnen
Thomas Gertler SJ

18. Januar 2023

Und hier natürlich das zweite Bild, wo Sie sehen können, wie die Erde sich in 45 min gedreht hat. Und dann natürlich das Wort Jesu, in dem er uns einlädt, einfach aus dem Fenster zu schauen und da draußen Gottes Feindesliebe zu sehen.

Foto: Thomas Gertler

Matthäus 5,43 - 48

5,43 Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen. 44 Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen, 45 damit ihr Kinder eures Vaters im Himmel werdet; denn er lässt seine Sonne aufgehen über Bösen und Guten und er lässt regnen über Gerechte und Ungerechte. 46 Wenn ihr nämlich nur die liebt, die euch lieben, welchen Lohn könnt ihr dafür erwarten? Tun das nicht auch die Zöllner? 47 Und wenn ihr nur eure Brüder grüßt, was tut ihr damit Besonderes? Tun das nicht auch die Heiden? 48 Seid also vollkommen, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist!