Aufhören und anfangen

Foto: Derek Gleeson - CC BY-SA 3.0

Es geht in diesem Impuls nicht schon wieder darum, dass ich dieses Jahr mit „update-seele“ aufhöre. Nein, es geht um eine Urlaubslektüre, und zwar hat mir gut gefallen Hartmut Rosa, Demokratie braucht Religion (Kösel-Verlag 2023). Ein Freund hat es mir geschenkt. Zwar ist der Titel für mich etwas irreführend, denn nach den Darlegungen braucht nicht speziell die Demokratie Religion, sondern die moderne Gesellschaft braucht Religion. Die moderne Gesellschaft ist nämlich gekennzeichnet durch „rasenden Stillstand“. Damit ist gemeint, dass wir unsere Gesellschaft so eingerichtet haben, dass sie immer Wachstum braucht, dass sie immer mehr braucht und verbraucht und so in eine wachsende Geschwindigkeit kommt. Dass dieses immer mehr und schneller aber kein Ziel mehr kennt, sondern eher in die berechtigte Angst vor dem Zusammenbruch und der Katastrophe führt. Dass wir darum aufhören müssen. Aufhören mit dem immer mehr und immer schneller. Und dass wir aufhören müssen im Sinne von aufmerken und darauf hören. Also „aufhören“ in einem doppelten Sinn. Dieses Aufhören ist der Beginn einer Suche nach Sinn und Ziel, damit wir aus dem „rasenden Stillstand“ herauskommen. Suche nach dem Neuanfang.

Das „Auf-hören“ im doppelten Sinn ist das erste Merkmal der „Resonanz“. Das ist ein Begriff, der für Rosa sehr wichtig ist. Die Resonanz ist für ihn in der Religion zu finden, aber natürlich nicht nur da. Resonanz ist zuerst das Antworten auf den Ton. Das Widertönen im wörtlichen Sinne von Resonanz, von re-sonare. Das antwortende Aufnehmen des Tones. Ich höre den Ton und unterbreche mein Tun. Ich höre auf mit der Arbeit und lausche, ich merke auf. Und damit reagiere ich schon. Also Auf-Hören in diesem doppelten Sinn ist der erste Schritt bei der Resonanz. Das geschieht aber nicht automatisch und nicht immer. So bei meiner Lieblingsmusik. Immer hat sie mich begeistert, aber heute nicht. Oder ich lese z. B. ein Gedicht, das mich früher sehr berührt hat, jetzt aber lässt es mich kalt. Da ist also immer etwas mehr im Spiel, damit mich etwas berührt und aufmerken lässt.

Der zweite Schritt ist, dass dieses Aufhören mich aktiv werden lässt. Ich höre auf und antworte. Mit einem eigenen Ton. So wie im Orchester die Instrumente einander antworten und die Melodie weiterführen. Aufhören und aufmerken lassen mich selbst aktiv werden. Lassen mich auf meine Weise die Melodie weiterführen. Ja, mehr und tiefer, das Aufhören und Aufmerken lässt mich wach werden, lebendig werden, weckt die Lebensgeister, weckt Begeisterung in mir. Ich reagiere und werde ein anderer.

Es geschieht also als drittes eine Verwandlung, eine Transformation. Etwas Neues geschieht. Aber eben nicht automatisch und nicht immer. Diese Resonanz ist unverfügbar. So sehr habe ich mich beispielsweise auf das Konzert der Philharmoniker gefreut und auch innerlich bereitet, aber es geschieht nichts wirklich mit mir und in mir. Schade! Wenn ich so voller Vorfreude und Erwartung war und es passiert nichts bei mir, dann führt das manchmal zu einer übertriebenen und unechten Begeisterung, weil ich es so sehr will, aber es stellt sich die Verwandlung nicht ein. Künstliche, unechte, forcierte, gewollte Begeisterung ist das dann. Aber wenn wirklich Resonanz geschieht, dann geschieht auch diese Verwandlung. Dann werde ich anders. Das ist sogar physiologisch an etlichen Merkmalen festzustellen wie Hautspannung, Pupillenerweiterung usw.

Und das Vierte ist: was dann am Ende herauskommt, das ist offen und nicht vorher berechenbar. Es geschieht Neues, Unerwartetes und Unberechenbares aus der Resonanz, aus dem Zusammenspiel, aus dem Zusammenklang des Orchesters. Oder aus dem gelungenen Gespräch: „So habe ich es noch nie gesehen. Jetzt verstehe ich endlich! Da muss jetzt aber ganz neu überlegt und angepackt werden. Da müssen wir gemeinsam neue Schritte gehen!“

Diese Beschreibung der Schritte von Resonanz führten auch bei mir selbst zu einer Resonanz, nämlich zu der überraschenden Erkenntnis: was Rosa da beschreibt mit seinen Worten aus der Soziologie, das kenne ich schon aus vielen Glaubensgeschichten und aus der Bibel. Resonanz ist in etwa das, was dort unter Berufung oder unter Bekehrung oder Metanoia, Umdenken beschrieben wird, und zwar so: Ein Wort fällt mir in die Seele, lässt mich aufmerken, lässt mich aufhören. Ich bin ergriffen und berührt. Es verändert mich. Ich sehe alles neu. Ich fange neu zu leben an. Ich werde aktiv. Ich finde neue Freunde, neue Gemeinschaft, neuen Lebenssinn. Genau diese Schritte. Und das ist unberechenbar und unverfügbar. Das ist nicht machbar. Es ist ein Geschenk.

Also ein Dankeschön an Prof. Rosa, der mich neu verstehen lässt, was wir seit vielen Jahren mit „update-seele“ wollen: den Glauben neu zum Klingen bringen und Sinn erfahren lassen mitten im Alltäglichen.

Es grüßt Sie herzlich
Thomas Gertler SJ

30. August 2023

Die Apostelgeschichte beschreibt die Folgen einer Ansprache in der Stadt Philippi. Die Begegnung der Purpurhändlerin Lydia mit Paulus nennt die Schritte der Bekehrung, vom Aufmerken, zum aktiv Werden und zum Neuanfang in der Taufe und in der neuen Gemeinschaft. Auf dem Bild ist die kleine Kapelle in Philippi zu sehen, wo Lydia der Überlieferung nach von Paulus getauft wurde.

Foto: Ian W. Scott - CC BY-SA 3.0

Apostelgeschichte 16,11 - 15

16,11 So brachen wir [Paulus mit seinen Gefährten] von Troas auf und fuhren auf dem kürzesten Weg nach Samothrake und am folgenden Tag nach Neapolis. 12 Von dort gingen wir nach Philippi, eine führende Stadt des Bezirks von Mazedonien, eine Kolonie. In dieser Stadt hielten wir uns einige Tage auf. 13 Am Sabbat gingen wir durch das Stadttor hinaus an den Fluss, wo wir eine Gebetsstätte vermuteten. Wir setzten uns und sprachen zu den Frauen, die sich eingefunden hatten. 14 Eine Frau namens Lydia, eine Purpurhändlerin aus der Stadt Thyatira, hörte zu; sie war eine Gottesfürchtige und der Herr öffnete ihr das Herz, sodass sie den Worten des Paulus aufmerksam lauschte. 15 Als sie und alle, die zu ihrem Haus gehörten, getauft waren, bat sie: Wenn ihr wirklich meint, dass ich zum Glauben an den Herrn gefunden habe, kommt in mein Haus und bleibt da. Und sie drängte uns.