
Foto: Heinz Zak - CC BY-SA 4.0
Sie nennt man auch Höhenangst, weil ich in die Tiefe fallen kann. Solche Höhenangst kenne ich bei mir selbst. Besonders stark habe ich sie für andere wie bei dem Bild oben, das mir schwer fällt anzusehen. Nochmal extra heftig für Kinder. Ich kann es nicht aushalten, wenn ein Kind am steil abfallenden Abhang steht. Mir wird so sehr Angst, dass mir ganz schlecht wird. Ich habe Angst, das Kind könnte einen Schritt zu weit gehen. Unerträglich für mich. Ich will unbedingt hineilen und das Kind zurückreißen. Geht natürlich nicht, wenn die Eltern dabei sind, die anscheinend gar keine Angst um ihr Kind haben.
Angst abzustürzen. Ist das die Angst, um die es heute gehen soll? Im Prinzip schon. Aber ich meine mehr die Angst auf dem geistlichen Weg, nicht so sehr auf dem Gebirgspfad. Auch im geistlichen Leben gibt es ja diese Angst vor der Tiefe, dem Abgrund. Sie ist eine Ursache für unsere Oberflächlichkeit. Darüber habe ich in meinem letzten Impuls geschrieben. Sich auf etwas Tieferes einzulassen, in der Begegnung mit dem eigenen Ich, im Gespräch mit dem Nächsten oder mit Gott im Gebet, das macht auch Angst. Vielleicht nicht so direkt und körperlich spürbar wie bei dem Kind, das dabei ist abzustürzen, aber oft so tief und so stark, dass man gar nicht weiter geht.
Und diese Angst ist auch berechtigt. Wir wollen diese Ängste heute einmal anschauen und versuchen, sie wahrzunehmen und wahr sein zu lassen. Denn oft stehen reale Erfahrungen dahinter. Gefährliche Erfahrungen. Beginnen wir mit dem Nächstliegenden und am meisten bekannten, mit der Angst, sich im Gespräch, im Umgang mit dem Nächsten auf etwas Tieferes einzulassen. Der andere weckt in mir die tiefe Sehnsucht nach Liebe, nach Geborgenheit, nach Glück. Ich lasse mich ein und bin total enttäuscht. Der andere war gar nicht an einer tieferen Beziehung interessiert. Ich bleibe verletzt zurück. Bitte nichts Tieferes mehr.
Oder wie in dem beeindruckenden Buch von Stefan Hein „Der fremde Freund“ (in der Westausgabe: „Drachenblut“). Eine tiefe Liebe und Freundschaft zerbricht durch eigene Schuld und es bleibt ein solches Trümmerfeld, ein solcher Schmerz zurück, dass ich so etwas keinesfalls noch einmal erleben möchte. Von da an gibt es nur noch oberflächliche Beziehungen – daher bleibt der intime Freund letztlich fremd. Nur nicht mehr so ein Weh wie das damals! Am besten gar keine persönlichen Gefühle mehr. Man zieht sich in eine ganz dicke, undurchdringliche Hornhaut zurück. Man wird unverwundbar, als hätte man in Drachenblut gebadet, aber ohne eine verwundbare Stelle wie bei Siegfried in der alten Sage. Angst vor Tiefe - mit der schrecklichen Folge, dass mit der Verwundbarkeit auch die Freude und der Jubel des Lebens vergehen. Man kann das Fühlen immer nur als Ganzes kürzen, nicht nur auf der schmerzvollen Seite.
Ja, Tiefe ist mit Risiko verbunden und der Gefahr der Verletzung und des Schmerzes, aber auch mit der unerwarteten Freude, dem Jubel, dem Dank. Mit der Fähigkeit, ganz neu zu leben. Das gilt auch für die Begegnung mit sich selbst. Geistliches Leben beginnt oft mir der Sehnsucht nach Wahrhaftigkeit. Ich will auch mir selbst gegenüber wahrhaftig sein und mir selbst und anderen nichts mehr vormachen. Das hat einen großen Reiz. Ich kann mich selbst besser verstehen lernen. Was treibt mich eigentlich an? Es kann einem aber auch so gehen, wie es Karl Valentin gesagt hat: „Heute in mich gegangen. Ist aber auch nichts los.“ Ich kann von mir selbst enttäuscht sein. Ich kann in mir selbst schreckliche Dunkelheiten und Abgründe entdecken. Angst vor der Tiefe. Ich kann merken, dass ich auf manchen Gebieten einfach nicht weiter komme. Und ich kann resignieren. Oder ich kann mich aufrichten und kämpfen. Und ich kann mich endlich mit mir und meiner Geschichte – und dann auch mit Gott aussöhnen. Und noch tiefer als meine Abgründe ist Gottes Liebe, die mich im Tiefsten erwartet. ‚Du kannst nicht tiefer fallen als in Gottes Hand‘ (Arno Pötzsch).
Angst vor der Tiefe – Angst vor Gott. Ja, die haben viele, denn wer sich wirklich auf Gott und den Glauben einlässt, der kann ja nicht vor Ihm bestehen. Wie soll ich schwacher Mensch vor der Größe und Allmacht Gottes bestehen? Da bleibt doch nichts. Da bleibt doch nur ein kleiner Fettfleck. Oder wie im Buddhismus nur ein Tropfen im Ozean, der ja darin völlig aufgeht. Und da soll das Ich auch: verschwinden und untergehen. Ich denke, diese Angst haben viele. Ich kenne sie auch von mir.
Nach christlicher Auffassung ist es aber ganz anders. Je näher ich Gott komme, um so mehr komme ich auch zu mir selbst. Das ist bei den großen Heiligen zu sehen. Sie werden nach großen Kämpfen und Niederlagen am Ende ganz sie selbst, und zwar gerade weil sie Gott und Jesus so nahe gekommen sind. Oder wie es das Konzil sagt: „Wer Christus, dem vollkommenen Menschen folgt, wird auch selbst mehr Mensch“ (Gaudium et spes 41). Ja, ich habe Angst vor der Tiefe, mit Recht, denn ich kann auch untergehen oder abstürzen, aber es lohnt das Wagnis. Ich kann auch Gott, den Nächsten und mich selbst endlich finden. Und das Leben und den Frieden und die Freude. Und etwas davon geschieht immer schon auf dem Weg in die Tiefe.
Vielleicht haben Sie es schon gespürt! Ich wünsche es Ihnen
Thomas Gertler SJ
22. Juli 2020
Wem man diesen Weg in die Tiefe ansieht, das ist für mich Charles de Foucauld auf diesem Bild. Es zeigt seinen langen und harten Weg hin zu Gott, hin zu den muslimischen Glaubensgeschwistern, hinein in die brennende Liebe Gottes. Sie leuchtet aus diesem Bild für mich. Es erfüllt sich bei ihm das Wort des Paulus im Brief an die Galater, das unten steht: „Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir“. Dieses Bild von Charles de Foucauld ist für mich wie eine Christusikone.
Brief an die Galater 2,19-20
2,19 Denn ich bin durch das Gesetz dem Gesetz gestorben, damit ich für Gott lebe. Ich bin mit Christus gekreuzigt worden. 20 Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir. Was ich nun im Fleische lebe, lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich für mich hingegeben hat.